31 Stockwerke




In Köln Ehrenfeld steht ein Hochhaus – das Herkuleshochhaus. Es ist eines der höchsten Gebäude der Stadt, und es dürfte in Köln kaum jemanden geben, der es nicht kennt. Von weitem wirkt seine Fassade, als wäre sie bunt gekachelt, und sie passt somit eigentlich ganz gut nach Köln, denn viele Hausfassaden sind hier gekachelt. Das ist selten wirklich schön, aber insgesamt ist es ein vertrauter Anblick in dieser Stadt. Das Herkuleshochhaus hat durch seine Fassade, sowie durch seine für Köln eher ungewöhnliche Höhe sogar einen gewissen Kultstatus erlangt. Es schmückt Postkarten, Frühstücksbrettchen und mit Fotomotiven bezogene mdf-Platten einer modernen Szene, die eine inzwischen etablierte Form des Lokal– bzw. Regionalpatriotismus abbildet. Dennoch hat das bunte Haus, das auch Papageienhaus genannt wird, nicht den allerbesten Ruf. Vage Gerüchte machen ebenso vage die Runde; um den Zustand des Hauses und den der Wohnungen, und um deren Bewohner. Von Drogen, Kakerlaken, „nur Ausländern“ und Polizei ist die Rede, von Suizidanten, die sich am Pförtner vorbei ins Haus hineinschleichen, weil es hoch genug ist um herunterzuspringen.




Neulich habe ich zufällig gelesen, dass im Herkuleshochhaus rund tausend Menschen leben. Das ist eine beachtliche Zahl, die ich seitdem versuche mir vorzustellen.

Von weitem sieht das Haus vor allem groß aus. Das ist es auch: 102 Meter ragt es in die Höhe, 31 Stockwerke versammeln sich darin. In China würde man erst seit 2 Metern überhaupt von einem Hochhaus sprechen, in Köln gilt ein anderer Standard. Wenn man sich dem Haus nähert, wird es plötzlich seltsam klein. Je näher man kommt, desto weniger raumgreifend wirkt der Bau, denn plötzlich befindet man sich in einer recht gewöhnlichen Wohnstrasse, von der aus man auch den Hauseingang sehen kann. Damit wird das Haus real und greifbar.
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Das ist die erste Verblüffung, die mir bewusst wurde, als ich begonnen habe, mich mit dem Herkuleshochhaus auseinanderzusetzen. Das Haus ist umzingelt von großen Straßen, die täglich zigtausende Menschen in ihren Autos daran vorbeiführen. Aber all die vielbefahrenen Strassen, die das Herkuleshochhaus umgeben, trennt eine dünne Barriere aus ganz normalen Wohnhäusern und seltsam verschlungenen Fußgängerbrücken von einer sichtbaren Erreichbarkeit der Hauses. Es bleibt abstrakt.

Man muss von einer dieser Straßen nur einmal rechts abbiegen, in eine unscheinbare Seitenstraße, durch die zu fahren oder zu gehen für niemanden Sinn macht, der hier nicht wohnt. Sofort verändert sich die Perspektive. Und zwar nicht nur die optische. Man betritt einen Raum, der konkrete Lebenswelt bedeutet. Biegt man nach 50 Metern um die nächste Ecke, findet man sich am Fuße des Herkuleshochhauses wieder. Hier wirkt es zwar immer noch groß, aber schon deutlich begreifbarer. Ich fühle mich an Herrn Tur Tur erinnert, der Scheinriese aus Jim Knopf, der beim näherkommen immer kleiner wird.




Das Haus wirkt zwar auf seltsame Art kleiner, wenn man unmittelbar davor steht. Die Struktur der Fassade allerdings nicht. Was von Ferne wie die typische Kölner Kachel erscheint, entpuppt sich aus der Nähe als großflächige Fassadenverkleidung, die weder wohnlich noch einladend wirkt. Die Fensterrahmen bilden mit der Außenwand eine ebene Oberfläche, keine Laibungen, keine Fensterbretter, keine Nischen weit und breit. Gedanklich überträgt man diesen ungemütlichen Zustand auf den Innenraum, wenn vielleicht auch unbewusst.
Was aus der Ferne betrachtet hübsch bunt gestaltet ist – auch wenn sich hier die Kölner Geschmacksgeister scheiden – von nahem entsteht der Eindruck trostloser Zweck­mäßigkeit.




Nachdem ich gelesen hatte, dass tausend Menschen im Herkuleshochhaus leben, hat es begonnen mich zu interessieren. Seit 22 Jahren lebe ich in Köln, die meiste Zeit in Ehrenfeld. Das Herkuleshochhaus ist mir bekannt und vertraut auf unbestimmte Art. Die Vorstellung dort zu leben hat neben ratlosem Unverständnis stets Schauder in mir hervorgerufen, sowie eine vage Erleichterung, dass ich mit der Möglichkeit nicht ansatzweise konfrontiert war oder bin. Ich nehme an, das geht vielen Kölnern so. Das ist allerdings nur eine Vermutung.




Zunächst habe ich das Haus also mit meiner Kamera umrundet. Aus allem möglichen Himmels- und Blickrichtungen habe ich ein Foto gemacht und mich auf diese Weise langsam herangepirscht.

Später, beim sichten der Fotos, war ich einigermaßen erschüttert. Ich hatte tatsächlich ausschließlich hübsche Bilder gemacht. Sozialromantik vor blauem Himmel.
Ich habe mich gefragt, wie das hatte passieren können. Wo war sie, die nüchterne Trostlosigkeit, die ich nah am Haus so deutlich empfunden hatte?
Ich glaube, ich habe sie aus Höflichkeit ausgelassen. Wie jemand, der sich wegdreht, wenn jemandem etwas peinliches passiert, um ihn nicht obendrein zu beschämen. Natürlich hinterfrage ich mein fotografisches Tun, habe mich aber dennoch entschieden, in diesem Artikel genau diese Fotos zu zeigen.




Seit dieser ersten Annäherung war ich noch ein paar Mal beim Herkuleshochhaus. Ich habe davor gestanden, habe mit Menschen, die darin wohnen, gesprochen, ich bin hineingegangen und einmal hat mir ein Wohnungseigentümer seine leerstehende Wohnung im neunten Stock gezeigt. Ich habe die Pförtnerin kennengelernt und miterlebt, wie sie von einer Frau, die im Haus lebt, um eine Zigarette gebeten wurde. „Na gut, eine kannst du haben.“ In der Hand hatte die Frau ein Marmeladenglas voller 1 und 2 Cent Stücke, mit denen sie nun irgendwo Tabak kaufen gehen wollte.
Ich habe dagestanden, mal vor diesem, mal vor jenem Eingang und mich gefragt, ob ich wohl wirke, wie eine talentlose Observierungspraktikantin. Denn irgendwann habe ich gemerkt, dass hinter den anonymen Fenstern Menschen sind.




An den beiden Eingängen ist viel weniger los als ich angesichts der tausend Bewohner vermutet hätte. Und nicht jeden, der vorbeikam, wollte ich gerne ansprechen. Und fast alle, die ich angesprochen habe, wollten von mir nichts wissen.
Einmal kam tatsächlich die Polizei. In Zivil. Plakativer hätte man sie in keiner Vorabendserie darstellen können. Ich habe einige Auszüge mitangesehen, aber bislang noch keinen Einzug.
All das sind aber noch immer nur erste Eindrücke, und wiederholt stelle ich fest, dass ich nicht frei von vorgefertigten Annahmen bin, die bislang keineswegs im Handstreich ins Gegenteil verkehrt wurden.

Mein Plan ist, das Haus und seine Bewohner kennen zu lernen. Zumindest ein paar, im Ansatz, in Ausschnitten. Mich interessiert, wie es sich lebt in einem so großen Haus mit derart vielen Menschen. Bislang renne ich allerdings keine offenen Türen ein.
Ein Bewohner riet mir, einfach mal eine Stunde Fahrstuhl zu fahren. Ein anderer meinte, ich solle mich für eine Weile einmieten. Beides ziemlich gute Ideen, wie ich finde, die mir zeigen, dass manches sich beim Tun entwickelt.



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