Mirka von Lilienthal

Von Berufen und Berufungen

Donnerstagmorgen vor anderthalb Wochen. Ich stehe auf dem Außengelände der Kita, die Sonne scheint, überall laufen Kinder herum, um 10 Uhr ist eine Zahnarzthelferin da gewesen, hat uns etwas über gesunde Ernährung erzählt, Zahnbürsten ausgeteilt und das richtige Zähneputzen mit den Kindern eingeübt. Die Sonne scheint also, aber die Kinder toben wie ein mächtiger Orkan durch die Gegend. Mir gegenüber haut ein Junge von hinten mit einem Stock den Boys’ Day Praktikanten, ein ziemlich eingeschüchterter 7. Klässler, und ich traue mich einzugreifen, obwohl neben mir eine erfahrene Kollegin sitzt. Ich traue mich, den Jungen zu ermahnen und habe das Gefühl, ihn zu erreichen. Allgemein habe ich das Gefühl, souveräner zu werden. Konsequenter. Bestimmter. Auch wenn ich an manchen Tagen das Gefühl habe, nur noch zu tadeln, mahnen und “schreien”. Auch wenn ich an manchen Tagen nach Hause gehe und Angst habe, dass mich die Kinder am nächsten Tag gar nicht mehr mögen können, gemessen daran, was für Erlebnisse wir in den zurückliegenden Stunden miteinander hatten. Und dann erlebe ich Momente, in denen ich ein Kind zurechtweise und fünf Minuten später kommt es zu mir, sucht meine Nähe, will etwas Schönes mit mir teilen. Momente, in denen ich an einem neuen Tag in die Gruppe komme und irgendein Kind zeigt mir etwas Neues, das es kann, freut sich sichtlich, mich zu sehen, völlig vergessend, dass es noch am Tag zuvor nur wegen mir vor Wut geheult hat. Diese Überraschung, die mich dann befällt, die Überraschung, dass man auch mal hart sein kann und dennoch gemocht wird, respektiert und ernst genommen, ist toll. Auch wenn es Momente gibt, in denen mich die Worte und Handlungen von Kindern sprachlos und traurig machen, wenn Grenzen überschritten und Regeln gebrochen werden, die schon tausend Mal erklärt und von Zeit zu Zeit sogar neu verhandelt wurden. Es macht mich stolz, dass ich in diesen wichtigen Momenten Teil des Lebens dieser Kinder bin. Ein Leben, das oftmals von Aufs und Abs geprägt ist, das eventuell von Belastungen betroffen ist, die eigentlich auf keinen Kinderrücken passen. Ein Leben, an dem vieles schreit: Keine schöne Kindheit, kein tolles Aufwachsen, so viele Sackgassen, die da noch kommen mögen. Aber ich bilde mir ein, nein, erhoffe mir, dass die Zeit, die ich mit dem Kind verbringe, zumindest irgendetwas auffangen oder zumindest abfedern kann. Neulich sagte ein Bekannter: “Meine Ausbilderin hat zu mir gesagt, dass man Konflikte nicht lösen können muss, sondern begleiten. Letzte Woche hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass mir das gelungen ist und da war ich schon ziemlich stolz.” Ich denke, genau darum sollte es gehen, wenn man gerade dabei ist, ein Verständnis davon zu entwickeln, welche Erzieherin oder welcher Erzieher man sein möchte und vor allem sein kann. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht nach Hause gehe und mich eine Begebenheit beschäftigt, in der ich irgendwie souveräner, konsequenter, gelassener oder begeisternder hätte sein können. Es gibt aber auch keinen Tag, an dem ich mich nicht darüber freue, was alles geklappt hat und wo ich besser agiert habe, als noch 24 Stunden zuvor. Ich freue mich, wenn Kinder mir vertrauen, sie beim Schaukeln nicht runterfallen zu lassen, erste Male mit mir erleben (das erste Mal die Schuhe alleine angezogen, das erste Mal die Rutsche herunter gerutscht, das erste Mal in der Kita Mittagsschlaf gehalten, das erste Mal morgens durch die Tür gehen und sein Elternteil verabschieden, ohne zu weinen…), mir wertschätzende Geschenke machen (Bilder, so viele Bilder!), ausloten, wo ihre und meine Grenzen sind und wo man einen Weg finden kann, im Rahmen dieser miteinander einen tollen Tag zu verbringen.

Der verhauene Boys’ Day Praktikant hat am Ende des Tages gesagt, dass wir den anstrengendsten und schlimmsten Beruf der Welt hätten und dass er nienieniemals Erzieher werden würde. In der Behauptung, wir hätten einen anstrengenden Job, stimme ich ihm uneingeschränkt zu (wenn ein Kind zwei Stunden am Stück schreit, bekommt man Kopfschmerzen, die nur aus der Hölle kommen können), aber dass es der schlimmste der Welt ist, da muss ich widersprechen. Vielleicht hätte ich das in der 7. Klasse aber auch noch so gesehen. Ganz bestimmt sogar. Klar, ich mochte Kinder schon immer, aber dieser Job erschien mir immer so etwas wie eine Endstation zu sein. Etwas, das man halt macht, weil man Kinder mag und sich zu nichts anderem berufen fühlt. Was man halt so denkt, wenn man in Utopien lebt (Stadtvilla mit Holzdielen und hohen Decken, viel Geld auf dem Konto, Geschäftsreisen in die fernsten Länder, vielleicht Kriegsberichterstatterin werden…) und das Jetzt ziemlich, ziemlich beschissen findet. Mein Job wird mich eines Tages an irgendeinen Ort binden und das ist okay so. Ich werde weniger Geld verdienen, als andere, die ebenfalls ein Studium absolviert haben. Ich werde keine Geschäftsreisen machen, für die ich in ein Flugzeug steigen und meine Familie und Freunde lange zurücklassen muss, vielleicht wird das weiteste “Reiseziel” in meinem Berufsziel ein Fortbildungsgebäude in Wuppertal sein, aber viel entscheidender ist doch, an welche Orte mich die Fantasie der Kinder bringt, mit denen ich arbeite. Das ist alles okay so, mehr als okay sogar. Es ist genau das, was ich machen will und kann und worin ich immer besser werden möchte, so lange, wie mich dieser Beruf erfüllt. (Was hoffentlich noch ganz, ganz lange der Fall ist.)

Ob mich mein Studium perfekt auf die Arbeit im Kindergarten vorbereitet, darin bin ich mir bis heute nicht ganz sicher. Es macht Spaß, aber wenn man so früh in der Ausbildung anfängt, 20 Stunden pro Woche in Kindertageseinrichtungen zu arbeiten, dann hat man manchmal das Gefühl, dass die Studieninhalte zwar interessant sind, einen aber wenig in Momenten an die Hand nehmen, in denen zwei Kinder um ein Spielzeug zanken, man ein Gefahrenpotenzial völlig falsch eingeschätzt hat und nun ein Kind weinend am Boden liegt, wenn ein Kind erzählt, dass die Mama immer schimpft, wenn es sich in der Kita mal schmutzig macht (und damit einen einzigen Farbklecks auf dem Oberteil meint!). Natürlich: Das kann alles noch kommen, im Laufe meiner Ausbildung, es warten noch so viele Module und damit verbundene Veranstaltungen auf mich, das erste Semester sollte vermutlich als Versuch verstanden werden, uns einen groben Überblick zu gewähren (pädagogische Epochen und damit verbundene Konzepte, Entwicklungspsychologie, eine Überblicksvorlesung über pädagogische Einrichtungen und die Professionalisierung des Erzieher*innen-Berufs, eine Vorlesung zum Thema Heterogenität…). Manchmal fehlt es halt, dass einen jemand an die Hand nimmt und mit einem Situationen diskutiert, in denen man sich unsouverän gefühlt hat. Jemand, der vielleicht auch mal in der eigenen Einrichtung vorbeikommt und beobachtet, wie man sich dort schlägt und diese Eindrücke hinterher gemeinsam mit einem reflektiert. Ich weiß, ich weiß: Um so etwas zu bekommen, hätte ich eine Ausbildung an einer Fachschule machen sollen. Aber: Die Entscheidung für die Uni fiel, weil ich es schade finde, dass Deutschland im internationalen Vergleich dieser so wichtigen Berufsgruppe unterirdisch wenig Beachtung beimisst. Weil ich denke, dass eine ausgewogene Mischung aus Fachschul- und Hochschulabsolvent*innen genau das in die Kita hereinträgt, was sie benötigt: Vielfalt, frischen Wind, unterschiedliche Hintergründe, auf deren Basis man Situationen aus unglaublich vielen Blickwinkeln betrachten und gemeinsam lösen kann. Was die Uni dennoch lernen sollte: Der Praxis mehr Raum zu geben. Statt zwei Blockpraktika ein Praxissemester anbieten (das tun immerhin die meisten Fachhochschulen). Wir haben kein Anerkennungsjahr, in dem wir an uns wachsen können (für verdammt wenig Geld, wohlgemerkt!). Wenn wir fertig sind, dann sind wir bereits staatlich anerkannte Kindheitspädagog*innen und werden eingestellt als jemand, der eine Gruppe leiten kann, der in Elterngesprächen den richtigen Tonfall findet, der Kinder so fördern und begleiten kann, wie sie es verdienen. Manche von uns werden, mit ein wenig Glück, schon im ersten Jahr nach dem Studium einen Posten als stellvertretende Leitung finden. Wer sich seine Praxis nicht parallel zum Studium sucht, wird sich, mit dem Abschluss auf einem Blatt Papier stehend, in eine Realität hineingeschmissen fühlen, der er vermutlich nur genau dort gewachsen ist: Auf dem Papier. Ganz bestimmt werde auch ich 2016 heimlich in einige Papiertüten atmen müssen, weil mich Erlebnisse im ersten “richtigen” Job überfordern, aber ich hoffe, dass aus dieser Überforderung irgendwann eine Herausforderung wird. Genauso wie aus dem Beruf der Erzieherin für mich eine Berufung geworden ist.

(Bild via Paulaena Franco.)



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