Leben im Gefahrengebiet

oder: noch ein Artikel zum Thema.

Eigentlich müsste ich dringend das Putengeschnetzelte im Kühlschrank verarbeiten. Erstens läuft es ab, und zweitens hab ich Hunger. Was das jetzt mit dem Leben im Gefahrengebiet zu tun hat? Alles.

So ist es nämlich.

Ich bin erst vor einigen Monaten von der Neustadt nach St. Pauli gezogen, und ja, mir war klar, das wird kein ruhiges Leben, und das wollte ich auch gar nicht. Ich genieße den dörflichen Charakter an Wochentagen, ab Donnerstag wird es lebhaft, bunt, betrunken – aber irgendwie nie bedrohlich. Ich habe mich gut eingelebt, kennen meinen Tabakdealer, grüße Rudi, wenn ich am Hundeladen vorbeigehe, Rudi, der auch den St. Pauli Waschsalon nebenan betreibt. Als wir noch keine Waschmaschine hatten, sind wir regelmäßig im Waschsalon gewesen, mit einer Thermoskanne Kaffee. Wenn mal irgendwas ist, geht man nach nebenan in den Hundeladen und sagt Rudi Bescheid. Wenn mir mal das Katzenfutter ausgeht, kaufe ich bei Rudi rohe Putenherzen. Und Willi, unser Nachbar aus der ersten Etage, nimmt Pakete an und sucht mehrfach täglich seine Katze.

Was jedoch seit Ende Dezember in diesem kleinen Dorf abgeht, ist anders. Es ist bedrohlich, es macht ein komisches Grummeln im Bauch.
Ich hatte nie wirklich eine Meinung, das gebe ich zu. Früher war ich zu weit ab vom Schuss, habe in Barmbek gelebt, und war damit beschäftigt irgendwie das Geld für die Miete und Strom und all das zusammenzukratzen. Danach lebte ich mehrere Jahre in einem Zustand, den ich “den goldenen Käfig” nenne. Finanziell war alles super, und wer Geld hat und Probleme, lernt irgendwann, dass sich die meisten Probleme mit Geld zumindest oberflächlich lösen lassen, und tiefer möchte man darüber gar nicht nachdenken. Das ist die Stumpfheit, die sich einstellt, denn glücklich ist man nicht, aber auch nicht so richtig unglücklich. Der gefühlsärmste Zustand ist luxuriöses Unglück.

Und nun bin ich mittendrin, und doch nicht so richtig dabei. Ich lese auf Twitter, ich lese Artikel, ich lese Meinungen.

Gestern wollte ich mich dem sogenannten “Abendspaziergang” anschließen, weil ich ein Gefühl dafür bekommen wollte, was zum Teufel hier eigentlich los ist. Was los war – bevor wir überhaupt losgingen, wurde schon Feuerwerk gezündet. Das richtige für mich, die an Silvester immer drinnen bleibt. Aus Gründen.
Ich habe mich selbst immer links von der Mitte eingeordnet. Und ich mache Dinge gerne ganz oder gar nicht – aber nun kommen wir zum großen aber:

Dinge ganz zu machen, heißt, sie richtig zu machen. Und hier ist gerade gar nichts mehr richtig.

Es ist nicht richtig, was die Polizei hier gerade in Hamburg macht, es ist meiner Meinung nach die völlig falsche Reaktion auf die Geschehnisse der letzten Wochen. Es ist nicht richtig, Polizisten zu provozieren und zu verarschen. Es ist nicht richtig, Menschen zu bedrängen – und da könnten sich sowohl die Polizei als auch die Extremisten bitte mal ein Notizzettelchen machen. Als ich gestern plötzlich das erste Mal verstand, was überhaupt so ein Kessel ist, und wie sich das anfühlt, dachte ich einfach nur noch “Das ist nicht richtig!” Es ist nicht richtig, dass neben mir Menschen stehen, die aufgebracht sind, egal ob nun aus sich selbst heraus oder weil sie Themen haben, die Polizisten als Lügner beschimpfen. Es ist nicht richtig, dass Polizisten mit Helmen Straßen abriegeln, und ich da nicht einfach rauskomme, wenn ich das will.

Ich fühle mich massiv in meiner Freiheit eingeschränkt, und zwar von beiden Seiten. Von Krawallisten und von der Polizei. Woher soll ich wissen, ob ich nicht gleich, wenn ich nur eben mal zu Budni laufen will, angehalten, kontrolliert und festgehalten werde? Oder ob der nächste Böller mich trifft, oder mein Fahrrad angezündet wird?

Das schlimmste ist eigentlich, dass mein Gefühl mir sagt: Das hier ist erst der Anfang, wenn sich nicht alle mal ein bisschen zusammenreißen und sich wieder auf Themen konzentrieren.

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