Illusionen der Kindheit.


1. Bezüglich Realität und Fiktion.

Viele Eltern sagen über ihre Kinder, sie hätten eine blühende Fantasie. Das klingt vorteilhaft und kaschiert in der Öffentlichkeit Zweifel am geistigen Entwicklungsstand des Nachwuchses hervorragend. Unter Erwachsenen ist die Floskel „blühende Fantasie“ deshalb ein verstecktes und entschuldigendes Flehen um Verständnis: Der Sprössling rollt schreiend und speichelnd über den Spielplatz, den Blick konzentriert ins Nirgendwo gerichtet, und versucht sich mit der Zunge in der Nase zu bohren, während der Rest der Körperglieder unbeeindruckt vom Geschehen die ersten pubertären Zuckungen auf der Tanzfläche der Kinderdisco vorwegnimmt? Ignorieren Sie das, der Kleine hat eine blühende Fantasie.

Meine blühende Fantasie zumindest hat in mehr als einer Gelegenheit dazu geführt, große Verwirrung zu stiften. Bis heute erzählt man sich zum Beispiel folgende Geschichte: In meinen frühesten Kindheitstagen hatten wir eine Nachbarin aus Litauen, die viel Zeit und Energie investierte, sich die gutturalen Brech- und Würglaute der deutschen Sprache zueigen zu machen. Meine Mutter, die eine große Heldin des Socializing ist, traf sich ein paar Mal mit ihr zum Kaffee. Unglücklicherweise begegnete die Nachbarin dabei nicht nur meiner Mutter, sondern auch meiner blühenden Fantasie – ein Auftritt, den die gute Frau wohl auf Lebzeiten nie wieder vergessen wird.

Fantasie hatte bei mir immer auch etwas mit der kolossalen Unfähigkeit zu tun, eine saubere Trennlinie zwischen Realität und Fiktion zu ziehen. Als besagte Nachbarin also eines Tages zum Kaffeeklatsch vorbeikam, war ich gerade in beinah medidativer Konzentration ins Spiel versenkt.

Es ist ein unerschütterliches Naturgesetz, dass kleine Kinder Frauen mittleren Alters anziehen wie ein Dunghaufen Schmeißfliegen. Diese Anziehungskraft wurde noch potenziert vom Wunsch der Nachbarin, ihre neuerworbenen Sprachfertigkeiten auszuprobieren. Deswegen konnte sie nicht umhin, auch mich zu begrüßen. Sie beugte sich also zu mir hinab und machte ein freundliches Gesicht.

„Wie heißt du denn, mein Kind“, fragte die Nachbarin und war sichtlich stolz auf diese Demonstration ihres sprachlichen Talents.

Ich hielt für eine Sekunde inne und starrte zu ihr hinauf. Vor meinem inneren Auge konnte ich schon das zufriedene Gesicht meiner Mutter sehen, die sich darüber freute, wie ihre süße Tochter mit der Nachbarin wohlerzogene Konversation machte. Eigentlich war ich ein sehr schüchternes Kind, aber das hier war eine einfache Frage. Ich wusste, wie ich hieß. Ich wusste, wer ich war. Die vergangenen Stunden hatte ich nichts anderes getan, als mich selber von meiner einzigartigen Identität zu überzeugen. Felsenfest saß das Wissen darum, wer und was ich war, in meinem Gehirn verankert. Jetzt war meine Zeit gekommen – jetzt würde ich es der Welt im Allgemeinen und der Nachbarin im Speziellen beweisen.

Also holte ich tief Luft und verkündete im Brustton der Überzeugung:

Woraufhin meine Mutter ein seltsames Geräusch machte und wieder einmal bewiesen war, dass eine blühende Fantasie einen vielleicht in der Werbebranche weit bringen mag, nicht aber in der sozialen Interaktion.

2. Bezüglich Identität und Identitätswechsel.

3. Bezüglich Realität und Fiktion, die Zweite.

Ganz früher hatte ich ein Kissen aus transparentem Kunststoff, in dessen Inneren sich sich eine blaue Flüssigkeit befand, in der Spielzeugfische und Glitzer herumschwammen. Dieses Kissen war mein allergrößter Schatz.

Dann wurde ich eines Tages der Schlafschlumpf.

Auch für den Schlafschlumpf hatte das Kissen natürlich einen unermesslichen Wert, denn damit konnte er immer und überall ein Nickerchen machen. Aber der Schlafschlumpf ist nicht nur müde, sondern auch faul. Mit messerscharfem Verstand schlussfolgerte ich also, dass ein echter Schlafschlumpf unter keinen Umständen pausenlos die Anstrengung unternehmen würde, etwas so gewaltig Schweres wie ein Kissen mit sich herumzuschleppen.

Was tat der Schlafschlumpf also, als er sich das nächste Mal ein neues Plätzchen für einen Mittagsschlaf suchte? Stolz auf seinen Verstand warf er das Kissen energiesparenderweise die Treppe hinunter, um es nicht tragen zu müssen. Woraufhin es am unteren Treppenabsatz zerplatzte. Und ich meiner wütenden Mutter unter Tränen erklären musste, warum es nur logisch war, meine eigenen Besitztümer zu zerschmeißen.

4. Bezüglich der Moral von der Geschicht.

Weil Computerspiele bei uns zuhause untersagt und Fernsehzeiten streng begrenzt waren, kenne ich so ungefähr jedes existierende Kinderbuch. Einer meiner Lieblingsklassiker war „Die Wawuschels“: Kleine Trolle mit grünen Haaren, die in der Dunkelheit leuchten, wohnen in einem Berg und essen für ihr Leben gern Tannenzapfenmarmelade.

Eine der Geschichten handelt von einem widerborstigen Wawuschel-Sprössling, der eines Nachts in einem Anflug unsittlicher Völlerei den gesamten Tannenzapfenmarmeladen-Vorrat alleine wegspachtelt. Als am Morgen der Rest der Familie nichts zum Frühstück hat, ist das Geschrei natürlich groß. Das schlechte Gewissen treibt den Knaben dazu, vor versammelter Mannschaft ein Geständnis abzulegen. Die Familie verzeiht ihm die Schandtat, weil er so ehrlich ist, und dann zieht die Horde Trolle los, um neue Tannenzapfen zu sammeln. Alle glücklich, Ende.

Für meine unerschütterliche Überzeugung, dass alles, was geschrieben steht, auch der Wahrheit entsprechen muss, war die Moral von der Geschicht – „Wer die Wahrheit sagt, ist fein raus“ – natürlich ein gefundenes Fressen. Ich verinnerlichte also die neugewonnene Weisheit und wartete auf den Tag, an dem ich den Rest der Familie mit meinem Wissen über die tieferen Zusammenhänge der Welt beeindrucken konnte.

Der kam bald: nämlich als mein innerer Forscher mir auftrug herauszufinden, ob man mit Kugelschreiber auch auf Sofapolster schreiben kann. Man konnte – nur wegmachen ging dummerweise nicht. Also drapierte ich stillschweigend ein Couchkissen vor mein erstes und bis dato letztes Graffiti und hoffte, mit diesem gerissenen Schachzug meine Eltern überlistet zu haben.

Die erwiesen sich aber leider als gerissener als ich, indem sie am gleichen Abend das Couchkissen wieder an seine angestammte Stelle rückten. Sogleich fiel natürlich die Kugelschreiber-Schmiere ins Auge, und meine Schwester und ich wurden zur Rede gestellt, wer das Sofa verschandelt habe. Ich sah meine Chance gekommen.

Und so lernte ich, dass den Wawuschels nicht zu trauen war.

5. Bezüglich Realität und Fiktion, die Dritte.

6. Bezüglich der eigenen Zukunft…

Erwartung: Prinzessin Trolla signiert vor einer Horde ekstatischer Fans einen ihrer zahlreichen Bestseller, während ihr Freund ihr geduldig zur Seite zu steht, um ihr hernach einen romantischen Heiratsantrag zu machen. Im Hintergrund zu sehen: Ihr bevorzugtes Fortbewegungsmittel, das preisgekrönte Zucht-Einhorn Totilas von der grünen Heide, sowie ihr Bankkonto.

Realität: Das mit dem Freund hat ja irgendwie geklappt, aber der Rest? Hier zu sehen – Trolla die Gewöhnliche im nervenzerrüttenden Kampf mit der unendlichen Hausarbeit, in die Knie gezwungen von der To-Do-Liste des Todes und strengstens überwacht von einer Uhr, auf der die Zeit garantiert dreimal so schnell verfließt wie auf den Uhren anderer Leute.

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