Michael Winterhoff ~ SOS Kinderseele

Normalerweise lese ich selten Sachbücher zum Thema Pädagogik. Da ich jedoch in meinem Bekannten- und Freundeskreis mit Eltern zu tun habe und dadurch einiges mitbekomme, befasse ich mich je nach Schwerpunkt gerne damit, um die Strukturen besser zu verstehen oder meine Ansichten ggf. zu überprüfen und erweitern.

Vor einiger Zeit saß ich bei einem Fest mit einem Elternpaar zusammen. Wir unterhielten uns über dies und das, bis irgendwann das Thema Schule an der Reihe war. Der kleine Sohn des Paares besucht seit kurzem die Grundschule und das dort vorherrschende Konzept sieht unter anderem vor, dass die Schüler in der ersten Zeit so schreiben dürfen, wie sie sprechen. Fehler werden nicht korrigiert, da die Kinder ein Gefühl für Sprache entwickeln und das Gehörte auf ihre Weise in Schriftform umsetzen sollen. Diese Methode nennt sich „Lesen durch Schreiben“ und geht auf den Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen zurück. Ihr Sinn besteht darin, dass sich die Kinder auf diese Weise die Schriftsprache nach und nach selbstständig erarbeiten und dadurch unter anderem lernen, besser und freier mit Sprache umzugehen.

Als ich davon hörte, konnte ich es kaum glauben. Zwar bin ich weder Pädagogin, noch habe ich ein Kind im Grundschulalter, doch die Tatsache, dass Kinder heutzutage bereits im ersten Schuljahr absichtlich Fehler verinnerlichen sollen, schien mir mehr als absurd.
Warum nutzt man gerade die Anfangszeit des Schulweges, also den Zeitpunkt, an dem Kinder noch neugierig und lernbegierig sind, nicht dafür, ihnen die wichtigsten Grundlagen unserer Kulturtechniken beizubringen? Bzw. warum lässt man sie stattdessen erstmal alles falsch lernen, nur um es ihnen danach, wenn es eigentlich schon zu spät ist, wieder neu und vor allem anders beizubringen? Der Sinn erschließt sich mir nicht.

Dies ist nur eines von vielen neuen Konzepten, die im Bildungswesen angewandt werden. Es scheint, als seien herkömmliche Methoden derart verpönt, dass stetig etwas Neues verordnet wird – scheinbar zum Wohle des Kindes und zur Förderung der freien Entfaltung. Cafés in Kindergärten, wo sich die Kinder selbst bedienen können, wenn sie Hunger oder Durst haben, Lerntheken, wo sich Schüler ihre Bücher und Materialen nach Bedarf abholen und Spielecken im Klassenzimmer, die jederzeit während des Unterrichts aufgesucht werden dürfen, sind nur ein paar Ideen, die Kindern dabei helfen sollen, selbstständige und freie Menschen zu werden.

Dass dies eher schadet als hilft, legt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff in seinem neuesten Buch „SOS Kinderseele“ dar. Sein Augenmerk liegt vor allem auf der Entwicklungspsychologie, da seiner Meinung nach eine dem Alter angemessen entwickelte soziale und emotionale Psyche die Grundlage allen Lernens, aber auch des Miteinanders sei.

Immer mehr Kinder und Jugendliche seien heutzutage nicht mehr in der Lage, gesunde Beziehungen zu führen und im Schul- sowie Berufsleben klarzukommen. Ihre Frustrationsgrenze sei extrem niedrig, Tugenden wie Pünktlichkeit und Disziplin suchen Arbeitgeber vergebens und das Gespür für Recht und Unrecht verkümmere zusehends.
Ursache sei nicht etwa Böswilligkeit oder Faulheit, sondern mangelnde Reife, da die Kinder aus verschiedenen Gründen nicht mehr auf einer dem Alter angemessenen Entwicklungsebene gefördert würden, sondern auf einer wesentlich niedrigeren Stufe stehen blieben.

Emotionale und soziale Reife erfordere ein Gegenüber, an dem sich das Kind orientieren kann. Dieses Gegenüber fehle jedoch dadurch, dass viele Eltern ihre Kinder als Teil des eigenen Ichs empfinden und kaum noch willens seien, das eigene Kind Belastungen auszusetzen. (Groß-)Eltern wollen geliebt werden und vermeiden dadurch Nein zu sagen. Das Kind solle sich entfalten, also bekommt es umgehend, was es braucht bzw. möchte. Die mangelnde Fähigkeit still zu sitzen und konzentriert zu lernen, verhindere den ursprünglich vorgesehenen Unterricht, wodurch das Niveau herabgesenkt werde, um die Schüler wenigstens durchzubringen. Der Fokus liege nicht mehr auf dem Lehrer als Bezugsperson, sondern auf der möglichst selbstbestimmten Aneignungsform des Stoffes.

Das sind nur die hervorspringenden Thesen aus dem vorliegenden Buch. Winterhoff untermauert sie durch Interviews mit Betroffenen, Forschungsergebnissen sowie Gesprächen nach Vorträgen und Beispielen aus dem Praxisalltag. Sein Ziel ist es, die Gesellschaft wachzurütteln und er fordert, nicht allen neuen Theorien und Konzepten blind zu folgen, sondern diese auch mal kritisch zu hinterfragen. Kinder sollen als solche behandelt werden. Sie brauchen Regeln und Orientierung (nicht zu verwechseln mit Strenge), um sich entwickeln zu können. Sie müssen erst lernen, wie man sich in der Welt zurechtfindet, bevor sie entscheiden können, wie etwas gemacht wird und das – entgegen vieler neuer Konzepte – am besten durch die Interaktion mit und Orientierung an einem bzw. mehreren menschlichen Gegenübern.

Dieser Inhalt erreichte mich während des Lesens auf zweierlei Weise: Zum einen schreibt Winterhoff sehr verständlich. Er vermeidet Fachbegriffe insoweit, dass jeder Laie verstehen kann, was er zu erklären versucht. Das Buch liest sich also trotz des fachspezifischen Inhalts mühelos.

Zum anderen gehe ich mit seiner Meinung größtenteils konform.
Dass ich oben beschriebene Methode zum Erlernen der Rechtschreibung absurd finde, habe ich bereits kundgetan. Doch auch andere Punkte, die Winterhoff aufgreift, sind mir nicht fremd. Ich kenne Eltern, die ihre Kinder wie Erwachsene behandeln und sie gleichzeitig behüten möchten wie ein rohes Ei.
Auf der einen Seite sollen diese Kinder Entscheidungen treffen, die sie aufgrund ihrer Entwicklung und des fehlenden Bewusstseins für die Umstände und Konsequenzen noch gar nicht treffen können (Stichwort: „Sie sind alt genug, selbst zu entscheiden, wo sie hingehen möchten und wo nicht. Wenn sie nicht in den Kindergarten/die Schule/zum Sport/zur Verwandtschaft wollen, müssen sie nicht.“). Auf der anderen Seite wird ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen und das am besten sofort und ohne Einschränkung, was wiederum dazu führt, dass das Geschrei groß ist, wenn mal etwas nicht so läuft, wie sie es gewohnt sind.

Diese niedrige Frustrationsgrenze erkenne ich wieder, während ich „SOS Kinderseele“ lese. Ebenso die zunehmende Unfähigkeit, eine Zeit lang still zu sitzen, sich in eine Situation einzufinden und auch mal etwas auszuhalten, ohne direkt etwas einzufordern oder in Wutgebrüll auszubrechen.

Ich rede hier nicht von Kindern, die wie Roboter auf Knopfdruck schweigen oder reden, rumlaufen oder stillsitzen sollen. Ich rede von ganz alltäglichen Situationen, wie wir sie alle als Kinder kannten: Manchmal muss man Dinge tun, auf die man keine Lust hat. Manchmal sitzt man länger an den Hausaufgaben, obwohl man sie nicht gerne macht. Manchmal bekommt man die neue Playstation eben nicht, obwohl man sie so gerne hätte. Und manchmal muss man eben am Tisch sitzen, um mit allen gemeinsam zu essen, obwohl man lieber spielen oder vorm Fernseher hocken würde.

Das galt damals wie heute und doch hat sich im Laufe der Jahrzehnte etwas verändert, denn wenn ich mich umschaue, scheint vieles davon schwieriger geworden zu sein: Das Nein sagen, das Zeitnehmen, das Aushalten, das Einfühlen, das Verzichten und das Befolgen einfachster Regeln – aber auch genau die Selbstständigkeit, die durch neue Konzepte erreicht werden soll. Um ein Beispiel zu nennen: Ich war in meinem Leben an drei Schulen, zum Teil verzögert, sodass ich wesentlich älter als meine Mitschüler war. Aus Gesprächen weiß ich, dass sich die Unterrichtsmethoden im Laufe des Jahrzehnts verändert haben – weniger Frontalunterricht, mehr eigenständiges Arbeiten usw. Obwohl man da mehr Selbstständigkeit erwarten könnte, waren meine (auf dem Papier bereits erwachsenen) Mitschüler zum Teil schon vollkommen verunsichert, wenn sie nicht wussten, was GENAU in einer Klassenarbeit dran kam. Die Aussage “Alles, was wir seit der letzten Arbeit durchgenommen haben” reichte nicht, stattdessen sollte jedes Thema, das drankommen wird, benannt werden (und zehnmal wiederholt zum Mitschreiben). Das besagte “Alles” (drei bis vier Themen) war zuviel, da würde man ja ewig lernen müssen…
Statt eine einfache (keine fragwürdige) Regel zu akzeptieren, wurde mehr als einmal diskutiert und je nachdem welcher Lehrer sprach, sah er oft nur den Rücken eines am PC spielenden Schülers.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich war sicherlich auch nicht immer die perfekte Schülerin, aber gewisse Anstandsformen habe ich von klein auf gelernt und für mich sind viele Dinge aufgrund meiner Schulzeit einfach selbstverständlich, weswegen es mir manchmal schwer fiel, die Situationsproblematik nachzuvollziehen.

Das ist sicher nicht in jeder Klasse oder Familie so und in einem gewissen Maße auch vollkommen normal hinsichtlich der Alterklasse, wenn man es jedoch so direkt vor Augen geführt bekommt wie durch Winterhoffs Buch, beginnt man Parallelen zu erkennen, die einen zum Nachdenken anregen. Ein Kind soll sich wohl und sicher fühlen, doch das schließt nicht aus, dass es lernt, Regeln zu befolgen und sich in eine Gemeinschaft einzufügen. Freie Entfaltung ist wichtig, doch Anleitung und Orientierung wirken unterstützender als das (kleine) Kind in allen Entscheidungen sich selbst zu überlassen. Wird eine Entwicklungsstufe übersprungen, kostet es nachher Zeit und Mühe sie wieder aufzuholen oder es endet so, wie oben beschrieben.

Man versteht den Hintergrund aus psychologischer Sicht etwas besser und kann für sich entscheiden, ob an dem Gelesenen etwas dran ist oder nicht. Für mich ist es das, weswegen ich die dargelegten Thesen durchaus nachvollziehen kann und größtenteils stimmig finde. Einzig die Lösungswege fehlen mir, denn diesbezüglich hält sich Winterhoff sehr allgemein. Konkrete Ratschläge für Eltern oder Erzieher/Lehrer findet man in „SOS Kinderseele“ nicht, dafür jedoch einen Denkanstoß, der einen dazu bringt, seine Ansichten und Methoden zu überdenken und ggf. neu auszurichten.

>> Interview mit dem Autor auf tagesanzeiger.ch

© Ada Mitsou

224 Seiten / 17,99 € ~ Bertelsmann (September 2013) ~ ISBN: 357010172X


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