Mirka von Lilienthal

Meine Gedanken sind mir gerade genug.

Ich nehme den nächstbesten Bus nach Hause und all das, was in der vergangenen Nacht passiert ist, nehme ich mit. Meine Gefühle, Gedanken und ich, wir passen kaum durch die sich langsam öffnende Bustür. Der Busfahrer ist gelangweilt, vielleicht sogar angekotzt. Auch für ihn ist Sonntag.

Ich kaufe ein Ticket – Bus fahre ich selten, aber gestern wollte ich lieber deine Hand halten, als mein Fahrrad mit zu dir zu schieben. Mit mir im Bus: Eine Mutter mit leise quäkenden Kleinkind und ein Typ, der in der letzten Reihe schläft und dem ein Spuckefaden aus dem Mund hängt. Sonst niemand. Ich setze mich auf den vordersten Platz, fast direkt neben den Busfahrer. Mein Lieblingsplatz: Man fühlt sich wie auf dem Beifahrersitz. Dieses Mal lasse ich den MP3-Player in meinem Jutebeutel. Meine Gedanken sind mir gerade genug.

Ein Bild vor meinen Augen. Als du mich an dich gezogen hast, da ist mein Ohr auf deiner Brust gelandet und ich habe gehört, wie schnell dein Herz geschlagen hat. Deine Aufregung hat mich erleichtert, du warst dir ebenso unsicher wie ich, ob du das alles richtig deutest. Ich habe eine Hand auf deinen Bauch gelegt und gelauscht, wie dein Herz irgendwann ein Tempo fand, das nicht nach Marathon klang.

Die Busfahrt dauert lange, wir fahren einmal unsinnig im Kreis und dann kurz im Zickzack, bevor ich am Ziel bin. Ich drücke den Knopf erst kurz vor der Haltestelle, so sehr bin ich in Gedanken bei dir. Beim Aussteigen stolpere ich fast über meine eigenen Füße und muss grinsen. Ob das wohl jemand gesehen hat? Egal. Ich bin mir gerade nicht peinlich.

Drei Straßen muss ich noch laufen. Vorbei an Mehrparteienhäusern, die viel karger aussehen, als das Haus, in dem du wohnst. Da wo du wohnst, wohnen Familien mit Hunden und roten Gartenzäunen und Siebensitzern. Deine Wohnung ist klein, die Möbel passen nicht zusammen, aber irgendwie hat sie Stil. So, als hättest du schon etwas erlebt, eine Geschichte, mehr Facetten, als die ganzen Ikea-Menschen. Bin ich ein Ikea-Mensch? Bin ich für dich ein Ikea-Mensch?

Du hast meine Füße gewärmt und mich zugedeckt und warst vieles, aber nicht egoistisch. Das Zusammensein mit dir hat mich so froh gemacht, nicht mehr 15 zu sein und schlecht befummelt zu werden. Aber: Wie ist das überhaupt passiert? Dieses Erwachsenwerden, dieses Nicht-mehr-15-Sein? Manchmal wache ich morgens auf und frage mich im verwirrten Dämmerzustand, ob ich meine Hausaufgaben eigentlich gemacht habe und was Frau Körner, die Lateinlehrerin, wohl unternehmen wird, sollte dem nicht der Fall sein.

Ich schließe die Haustür auf, was immer wieder einen Kraftakt darstellt, wenn man nicht gleich den richtigen Winkel trifft, im richtigen Moment Gegendruck am Türknauf ausübt. Vier Stockwerke liegen vor mir, ich ziehe einen Pizzaflyer im Hausflur aus dem Briefkasten. “Keine Werbung”-Aufkleber scheinen im Pizzerien-Universum bedeutungslos zu sein. Die Wohnungstür steht offen, eine meiner Mitbewohnerinnen steht zwischen ihrem Gepäck im Flur, es stinkt nach Rauch, eine andere Mitbewohnerin schreit jemanden übers Telefon an. Manchmal bereue ich es, in einer Sechser-WG zu wohnen. Vor allem dann, wenn ich gerne mit meinen Gedanken alleine wäre.

“Wie war dein Wochenende”, krakelt der Telefonschreihals, ihre Wuttirade unterbrechend und augenscheinlich mich meinend, immerhin lächelnd. Wenn ich das wüsste, denke ich. “Schön”, sage ich. Wie krächzend meine Stimme klingt. Schön. Ein nichtssagenderes Wort hätte ich auch nicht finden können. Ich zwänge mich an Miss Gepäck vorbei, die ihre dreckige Unterwäsche im Flur nach Reizwäsche und Baumwollhöschen zu sortieren scheint, und steuere auf meine Zimmertür zu.

Ich muss daran denken, wie wir deine Wohnung betreten haben. Aufgeräumt war es dort, was mich überraschend hat. Du wirkst so getrieben, so, als hättest du andere Dinge im Kopf, alle zehn Minuten einen neuen Geistesblitz und wenn ich mir vorstelle, wie solche Menschen leben, dann denke ich an Stapel (Papiere, getragene Klamotten, Verpackungsmüll), aber bei dir sah es ganz anders aus. Auf dem Esstisch stand eine Schale mit frischem Obst. Halt mich für verrückt, aber als ich klein war, habe ich gefüllte Obstschalen mit Erwachsensein verbunden und noch heute verfalle ich in tiefe Ehrfurcht, wenn ich so etwas bei einem von uns zu Gesicht bekomme. Bei einem, dessen Geburtsjahr meinem so nahe ist, dass man davon sprechen könnte, dass wir gleich alt sind und erwarten könnte, dass wir unsere Leben gleich gut im Griff haben könnten. Ich habe weder eine Schale für Obst, geschweige denn Obst im Haus. Ich habe nicht einmal eine Haustür, die ich schließen kann und hinter der dann nur ich passiere.

Beim Blick in den Spiegel fahre ich zusammen. Mein Make-Up sitzt schief, meine Haare erzählen eine Geschichte, in der das Wort ‘durchgevögelt’ definitiv Verwendung findet und mein Lächeln verrät Dinge, die auf dem nächsten Familienfest für einen Eklat sorgen würden. Der ganze Sonntag liegt noch vor mir. Was du wohl gerade machst?

Als ich gegangen bin, hast du mit einem schiefen Lächeln in der Tür gestanden. Wir haben uns nichts versprochen, wir haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Ob es weitergeht. Aber wir haben in noch glühweihnberauschtem Zustand mitten in der Nacht unsere Handynummern ausgetauscht. Es könnte also, wenn wir wollen. Ich bin die paar Meter bis zur Bushaltestelle gelaufen, musste mich erst einmal orientieren, so fremd ist mir dein Stadtteil. Werde ich ihn besser kennen lernen, in nächster Zeit? Werde ich häufiger die Stufen zu deiner Wohnung hinaufgehen? Willst du, dass ich Unordnung in dein Leben bringe? Will ich das?

Mein Handy vibriert. Ich hoffe, du bist es.

(Bild via vinothchandar.)



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