Naomi

Die Wohnung


Seitdem ich alleine wohne und keinen Fernseher mehr habe, greife ich gerne und (vielleicht etwas zu) häufig auf die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen zurück. So auch in den letzten Septembertagen, als ich bis oben hin in meiner Hausarbeit über Jane Austen steckte und mir nach einem zehnstündigen Bibliotheksbesuch am Samstag dann einfach mal erlaubt habe, den Rest des Abends "freizunehmen" und mich für eine kleine Weile ganz bewusst mit etwas völlig anderem zu beschäftigen. Und tatsächlich hatte ich in dem Fall das Glück, dort (diesmal war's die ARD-Mediathek) auf einen wahren Filmschatz zu treffen.

© Salzgeber & Co. Medien GmbH
In seinem Dokumentarfilm "Die Wohnung" begibt sich der israelische Regisseur Arnon Goldfinger auf die Spuren der Vergangenheit seiner Großeltern Kurt und Gerda Tuchler, deutsche Juden, die 1937 aus Deutschland emigrierten, um der Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu entkommen. Die Familie weiß wenig über diese Zeit, als sie sich nach dem Tod der Großmutter Gerda an die Auflösung von deren Wohnung in Tel Aviv macht, in der sie gemeinsam mit ihrem Mann 70 Jahre lang lebte, "als hätte sie Deutschland nie verlassen".
Zwischen all den Zeugnissen und Hinterlassenschaften dieser beiden Leben finden sich schließlich eine Reihe von Hinweisen und Briefen, die zum allgemeinen Erstaunen auf eine Freundschaft der Tuchlers mit dem SS-Offizier Leopold von Mildenstein und dessen Frau hindeuten. Arnon Goldfinger begibt sich auf eine Spurensuche nach Deutschland.

© Goldfinger / Tuchler Familienarchiv
Ich finde es immer schwierig, eine Begeisterung, wie ich sie angesichts dieses Films empfunden habe, in ihre Bestandteile zu zerlegen und zu bestimmen: Was genau gefällt mir eigentlich so gut? In diesem Fall war es wohl zum einen die ungewohnte und in mancher Hinsicht doch irgendwie vertraute Perspektive - die Sicht eines israelischen Filmemachers, der aus so anderen Zusammenhängen stammt als ich, auf seine Begegnung mit dieser Vergangenheit, durch die ich mich gleichzeitig mit ihm verbunden und von ihm abgegrenzt fühle und mit der wir alle irgendwie umgehen müssen. Obwohl die NS-Zeit und Holocaust, wie ich finde, medial doch meistens recht präsent sind, habe ich oft den Eindruck, dass sich angesichts der häufig wiederholten Bilder eine Art Gewöhnungseffekt einstellt, das Interesse ermüdet und die Betroffenheit eher zu einer Art Automatismus wird. Zu häufig hat man das Gefühl, das alles doch schon etliche Male so oder so ähnlich gehört und gesehen zu haben. Bei diesem Film hatte ich hingegen seit langem mal wieder das Gefühl, mir einen neuen Blickwinkel zu erobern. Das Bild in meinem Kopf wird dadurch vollständiger, weniger flach - wenn auch gleichzeitig vielleicht ein bisschen weniger klar. Denn gerade auch die Vielschichtigkeit und die inneren Widersprüche der Situation fand ich im Film sehr eindrücklich. Mir wurde wieder einmal deutlich, wie schwimmend die Grenzen zwischen Politik und privatem, ganz alltäglichem Leben sind und wie die Kategorien gut und böse, Feind und Freund, ineinander fließen. Dass Menschen in dem, wie sie empfinden und handeln, nicht immer dem folgen, was eigentlich logisch wäre.

© david baltzer/bildbuehne.de | Arnon Goldfingers Mutter reist mit ihm nach Deutschland, auf den Spuren ihrer Eltern.
Weitere Ausführungen spare ich mir an dieser Stelle. Denn das, was ich hier (gefühlt vergeblich) versuche, in Worte zu fassen, ist wohl ohnehin am besten zu begreifen, wenn man sich den Film einfach ansieht. Wer das nun tun möchte: Bis morgen noch ist der Film in der ARD-Mediathek abrufbar, ansonsten kann ich nur wärmstens die DVD empfehlen. Eineinhalb Stunden, die sich lohnen.
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