Mirka von Lilienthal

Ohne Schuhe.

Als sie ins Büro kam, da war Suse schon da. Suse war immer schon da, wenn sie völlig abgehetzt im dritten Stock ankam (kein Aufzug, kleine Fenster, kümmerliche Perspektiven) Suse war auch eine der letzten, die das Büro verließ, um nach Hause zu zwei Katzen und einem traurigen Bio-Salat aus dem Reformhaus zu radeln. Eigentlich hieß Suse Susanne und ihren Kunden stellte sie sich als Sanne vor, weil sie fand, Sanne klänge dynamisch und geheimnisvoll. Wer mit Sanne Hansen telefonierte, stelle sich vermutlich ein blondes, friesisches Pflänzchen vor, deren Ahnen irgendwann aus Skandinavien eingewandert waren. Suse war vieles, aber nicht das. Suse war stämmig, trug ihre Haare als etwas, das das Prädikat ‘praktisch’ verdiente und hätte sich wunderbar auf einem bayerischen Bauernhof gemacht. Als sie vor vier Jahren in das gleiche Büro gesteckt worden waren, da hätte es keine von ihnen für möglich gehalten, dass aus ihnen das absolut Dreamteam werden würde. Sogar weit über die Arbeit hinaus. Und dennoch war Susanne immer Suse für sie geblieben.

Das erste, was sie tat, noch vor einem “Guten Morgen” in Suses Richtung, war, sich die Kotzeschuhe von den Füßen zu reißen. In der Bahn hatte sie sie notdürftig mit ihren Taschentüchern und der weiteren Packung einer rührigen Rentnerin, die Linus’ Arm getäschtelt und “Wird schon wieder, mein Jung” gesagt hatte, und ihrer Flasche Mineralwasser gesäubert. Jeder Umsitzende hatte beschämt weggeguckt und vermutlich innerlich ein Fest gefeiert, nicht diese völlig neben sich stehende Frau mit dem Kotzekind und der mauligen Vorschülerin (“Mama, Linus ist krank! Wir müssen wieder nach Hause fahren! Können wir Leo Lausemaus gucken? Und kann ich dann ein Eis? Mama, bitte bitte!”) zu sein. Oder mit ihr verheiratet sein zu müssen. Natürlich waren sie nicht umgekehrt. Natürlich hatte sie nicht im Büro angerufen, um sich krank zu melden, weil Linus auf ihre Schuhe gekotzt hatte. Natürlich hatte ihre Mutter nicht auf ihre SMS geantwortet.

“Schlimmer Morgen?”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Linus hat mir auf die Schuhe gekotzt.”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Und ich dachte schon, du hättest dir Blasen gelaufen.”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Und vorher war auch alles chaotisch.”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Ist irgendwas passiert?”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Das Übliche. Und zu wenig Schlaf.”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Komm, mir kannst du nichts vormachen.”
Mein Vater stirbt vielleicht.
“Mein Vater stirbt vielleicht.”

Als es raus war, da schlug sie sich die Hand vor den Mund, so sehr erschreckte es sie, diesen Satz laut zu hören. Diesen Satz auszusprechen, nicht mehr nur zu denken. Diesen Satz in den Raum zu stellen, den sie versucht hatte, ihrer Mutter begreiflich zu machen, ohne ihn direkt formulieren zu müssen. Dieser Satz, den sie bisher nicht einmal Marlon hatte sagen können, der sie gestern im Arm gehalten hatte, als sie sich in den Schlaf weinte. Sie wusste, dass es nicht gut war, ihre Ängste mit ins Büro zu nehmen, sie ausgerechnet hier so nahe an sich ran zu lassen, aber Suse war einer dieser Menschen, die man ansah und man hatte den leisen Hauch einer Ahnung, dass irgendwann und irgendwie alles gut werden würde – weil es Menschen wie Suse gab. Diese legte den Kugelschreiber zu Seite, den sie zwischen ihren Fingern hin und her hatte wandern lassen und stand vom Schreibtisch auf, um sie in den Arm zu nehmen. Suse umarmte selten. Sie hatte sie umarmt, als sie ihr erzählt hatte, dass Marlon und sie wieder Eltern werden würden. Und hatte sich umarmen lassen, als ihre dritte Katze von einem Wiesenhof-LKW überfahren worden war. Ansonsten war Suse mehr der Typ fürs Rückenklopfen.

Mein Vater stirbt vielleicht.

Die nächste Stunde flog an ihr vorbei. Suse kochte ihr Kräutertee, obwohl sich jede Faser ihres schwangeren Körpers nach einem Kaffee verzehrte. Sie zwang sie, ein Brötchen mit Mango-Papaya-Aufstrich zu essen (“Gibt’s im Reformhaus!”) und dann fragte sie sie, ob sie den Termin gleich schaffen würde. Es war kein bahnbrechender Termin, keiner von der Sorte, der ihren Chef dazu bewog, in seiberndem Aktivismus sieben verschiedene Getränkesorten auf dem Konferenztisch zu platzieren und Frau Körner, die gute Seele der Büros, Schnittchen aus dem Feinkostladen besorgen zu lassen. Nein, es war ein mittelmäßiger Termin, denn sie bekam immer nur mittelmäßige Kunden und verdiente ein mittelmäßiges Gehalt mit einer Arbeit, die ihr an den meisten Tagen deutlich weniger Spaß machte als “mittelmäßig”. Carin, mit der sie Projektmanagement studiert hatte, hatte diesen Blick gehabt, als sie ihr von Kind Nummer 3 erzählte. Diesen Blick, den die Leute bekamen, wenn sie das Gefühl hatten, eine Frau wolle sich vorm Karrieremachen drücken, indem sie Kinder in die Welt setzte und einen Moment hatte sie sich selbst gefragt, ob sie dieses dritte Kind nur hatte haben wollen, weil sie auf der Arbeit nie über eine rohe Mittelmäßigkeit hinauskommen würde. Würde sie mit drei Kindern überhaupt noch arbeiten gehen? Arbeiten gehen können? Wollen? Müssen? Dann hatte sie sich daran erinnert, wie unperfekt sie als Mutter war, wie wenig in ihrer chaotischen Wohnung “Rückzug ins Biedermeier” schrie und beschlossen, Carin so bald nicht wieder zu treffen.

Mein Vater stirbt vielleicht.

“Es geht schon”, hatte sie schließlich zu Suse gesagt, mit gequältem Blick den letzten Schluck Tee heruntergestürzt und hatte sich ihre Unterlagen unter den Arm geklemmt. Hätte Suse sie nicht aufgehalten, dann wäre sie ohne Schuhe und mit hängenden Schultern vor Bachner und Söhne getreten und wer glaubte einer Frau ohne Schuhe schon, dass es eine gute Idee war, Imagevideos für YouTube zu drehen? Aktuell glaubte sie sich ja selbst nicht einmal, dass alles wieder gut werden würde.

Mein Vater stirbt vielleicht.

(Bild via andoline.)



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