Wenn die Kindheit langsam stirbt...


Ok ok, der Titel ist vielleicht eine Spur zu pathetisch. Aber irgendwie ist es schon genau das, was ich manchmal empfinde.

Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, wo jeder jeden kennt. Schon seit Längerem wohne ich nicht mehr bei meinen Eltern, sondern 25 km entfernt in der Stadt und komme idR. nur alle 2-3 Wochen mal sonntags vorbei zum Schweinebraten (oder Sauerbrauten oder Lasagne oder oder oder). Und so langsam stirbt das Umfeld meiner Kindheit. Nach und nach nimmt man Abschied von Menschen, denen man vielleicht emotional nicht sonderlich nahe stand, die aber doch irgendwie ein Teil der eigenen Kindheit waren. Dann erzählt meine Mutter mal wieder am Telefon: "Ich gehe morgen auf die Beerdigung von XY." oder "Weißt du, wer gestorben ist?" Z. B. die alte Nachbarin, bei der man immer Kuchen abgestaubt hat. Die Handarbeitslehrerin aus der Grundschule. Der nette Nachbar, der mit dem großen schwarzen Hund, der schon vor vielen Jahren eingeschläfert wurde. (Der Hund, nicht der Nachbar.) Der Sohn des anderen Nachbarn, der erst 45 Jahre alt war und einfach tot umfiel.

Wirklich traurig war ich vor einigen Jahren, als ich erfuhr, dass unser Pfarrer gestorben war. Der war zwar schon viele Jahre nicht mehr bei uns tätig, aber hat meine komplette Kindheit begleitet. Hat meine Eltern getraut, mich und meine Geschwister getauft, uns an der Grundschule in Reli unterrichtet, mit meiner Schwester im Pfarrgarten Fußball gespielt, meine Kommunion und Firmung begleitet usw. Muss noch dazu sagen, dass meine Eltern direkt neben der Dorfkirche wohnen und er deshalb auch ein geschätzter Nachbar war.

Und dann neulich: Mein Neffe liebt die lebensgroße Jesusstatue, die in der Kirche steht. Er gibt Jesus immer gerne ein Küsschen, weil der so traurig aussieht. Also ging ich neulich mit ihm da rein, und aus Interesse blätterte ich die Mappe mit den Sterbebildchen durch. Ich konnte darin meine Großeltern finden, unseren Pfarrer und viele Menschen aus unserem Dorf, die ich kannte.

Mein Blick blieb jedoch plötzlich an einem mir bislang unbekannten Sterbebildchen hängen: Schwester Ludwigis, meine Kindergartenschwester! Auch sie hatte unser Dorf schon vor vielen Jahren verlassen, aber ich habe an meine Kindergartennonnen so gute Erinnerungen, dass ich auch noch als Erwachsene in jedem Gesicht, das unter einer schwarzen Haube steckte, ihr vertrautes Gesicht suchte. Damals lebte außer Sr. Ludwigis noch die Mutter Oberin im Haus, in dem sich der Kindergarten befand. Sie war schon zu alt zum Kinderhüten, aber wir malten regelmäßig Bilder für sie, gingen dann mit einer Kindergärtnerin die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und holten uns für unsere Meisterwerke Süßigkeiten ab. :-) Dass die Mutter Oberin schon längst gestorben sein musste, war mir klar, denn sie war ja schon alt, als ich noch ganz klein war.

Aber ich hatte gar nicht gewusst, dass Sr. Ludwigis vor ein paar Jahren gestorben ist. Ich war echt traurig, als ich das Bildchen sah, und ich fragte meine Mutter leicht verärgert, wieso sie mir nichts davon erzählt hätte. "Ich hab dir davon erzählt, oder nicht?" Nein, ich hätte mich doch daran erinnert!

Vielleicht ist das nicht nachvollziehbar, aber solche Dinge machen mich immer sehr wehmütig. Es ist, als ob ein Teil der eigenen Kindheit sich verabschiedet. Kennt ihr dieses Gefühl auch?
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