Mirka von Lilienthal

Gedankenkotze.

“We’ve all been so many different people at different stages of our lives that I’m sure that you’ve known — that you’ve been — several completely different kinds of people. As for me? I barely recognize myself in the descriptions above, yet those are some of the lives I’ve lived. How many different people have you been that you would barely recognize?” (via Jessica Pan)

Uff. Ja. Und nochmal ja! Darüber habe ich mir in letzter Zeit ziemlich viele Gedanken gemacht, in stillen Momenten, wenn ich reflektiert habe, wie ich eigentlich da hin gekommen bin, wo ich aktuell bin. Wie ich zu der Person geworden bin, die ich heute bin. Wann ich aufgehört habe, der Mensch zu sein, der ich mal war. Anders als Jessica, habe ich (bisher?) mit gar nicht einmal so vielen “Ichs” gelebt. Manchmal glaube ich, es gibt das frühere und das heutige Ich und der Wandel war stetig, wirkt aber in der Retrospektive, als hätte es einen klaren Cut gegeben. Als wäre da ein Moment gewesen, in dem ich allen Plänen, Gewissheiten und Hoffnungen ein winziges Grab geschaufelt und ihnen die letzte Ehre erwiesen hätte. Diesen Moment hat es nie gegeben, genauso wenig, wie es sich jemals für mich angefühlt hat, als würde ich etwas begraben. Ja, mein 15-jähriges Ich würde meinem 21-jährigen Ich auf die Schulter

klopfen und zur eigenen Einsargung gratulieren, aber es hat gute Gründe, dass man nicht für immer 15 ist und, hey, wenn ich ehrlich bin, dann war ich eine ganz schön zornige, zänkerische und zugleich zerbrechliche 15-jährige, die sich nicht umsonst mit Cristina Yang identifiziert hat… Wie wird mein knapp 30-jähriges Ich wohl mit mir ins Gericht gehen? Mit der Person, die ich während meines Studiums war? Die von Beratungsstelle zu Beratungsstelle hastete, weil sich niemand so richtig zuständig fühlte für das, was man Selbstfindungsschwierigkeiten nennt. Die vor nicht einmal zwei Jahren im Bett lag, nicht schlafen konnte, kaum Luft bekam, irgendwie wusste “Das hier ist nichts”, aber den letzten Schritt nicht machen konnte: Das erste Studium beenden. Meine Positivität habe ich – so hoffe ich – auch in den etwas dunkleren Tagen nicht verloren. Zumindest habe ich diese sehr häufig mit Schokokuchen davongebacken. Wie werde ich die Fröhlichlichkeit beurteilen, die auf das abgebrochene Studium folgte? Werde ich mit 30 immer noch im Kindergarten arbeiten oder werde ich an einem ganz anderen Ort eine neue Berufung gefunden habe? Heute, ja, da scheint mir der Gedanke, dass ich vielleicht irgendwann nicht mehr mit Kindern (oder zumindest für Kinder) arbeiten könnte, ziemlich absurd. Aber wer weiß, wo mich das Leben mit 30 hingetragen hat? Wie viele Türen sich geöffnet und geschlossen – geöffnet und geschlossen und wieder und noch einmal und bäm – haben. Vor einigen Jahren, da gab es auch kein Zukunftsbild von mir, in dem ich mich nicht als Journalistin sah. Nur weil ich heute älter bin als das Mädchen, das sich später als Journalistin sah: Macht das meine Vorstellungen von mir als Erzieherin, als Kindheitspädagogin, als Leiterin einer Krippe, irgendwie sicherer? Gibt es überhaupt irgendwelche Sicherheiten?

Genau das fragt sich Jessica in dem Artikel, auf den ich oben verwiesen habe, nämlich auch: Ob die Person, die sie gerade ist, jetzt wohl endlich “Stable Jess” ist. Jessica ist fast 10 Jahre älter als ich, ist gerade 30 geworden. Wie viele Brüche wird es in meinem Leben noch geben, wie viele Straßen werde ich zum ersten Mal befahren, wie viele Sackgassen werde ich mit zusammengebissenen Zähnen meistern müssen, welche Menschen sind in einem Jahr nicht mehr an meiner Seite, um meine Hand zu halten? Wie viele in zehn? Und: Wer ist es freiwillig, wer unfreiwillig – nicht mehr da?

In five years time I might not know you
In five years time we might not speak
In five years time we might not get along
In five years time you might just prove me wrong

Wenn ich mir so anschaue, was ich in den letzten fünf Jahren erlebt habe, dann weiß ich, was in den nächsten fünf Jahren vor mir liegen kann: Alles. Vielleicht heirate ich und bekomme mein erstes Kind. Vielleicht schmeiße ich im letzten Semester mein Studium und eröffne einen veganen Cateringservice oder erbe von einem mir bisher unbekannten Onkel einen Bauernhof, den ich zu einem Gnadenhof für alte, kranke und misshandelte Tiere umbaue (unwahrscheinlich, aber hey, man weiß nie, vor fünf Jahren hätte ich mich über den Berufswunsch “Erzieherin” hysterisch lachend verschluckt!), vielleicht habe ich sämtliche Internetaccounts gelöscht - weil ich es nicht mehr ertrage, was Menschen ins Internet schreiben, vielleicht habe ich alle 101 Dinge von meiner Liste erlebt und bereist eine neue geschrieben, vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Wo ich mich in fünf Jahren sehe: Als stellvertretende Leiterin einer Krippe. Einer modernen Krippe, mit kreativen und frischen Team, mit Kindern, die mich in ihrem Förderbedarf fordern. Was ich dafür tue: Weitermachen, jeden Tag. Und: Nie mehr planen, als die nächsten 3 Monate. Ach, eigentlich die nächsten fünf Minuten. (Leider nicht sehr alltagstauglich, wenn man studiert UND arbeitet UND ein Privatleben hat…) Und außerdem: Wem mache ich was vor, ich schreibe gerne Listen – To-Do-Listen, Termin-Listen, Wunschlisten, Listen voller Träume (großer wie kleiner). Aber: Das sind eher Listen, die mich im Alltag an die Hand nehmen. Die auf jeden schönen Tag einen neuen (und oft) genauso schönen Tag folgen lassen. Es war gar nicht leicht für mich, eine gute Balance zu finden zwischen verplant und planlos, zwischen a und b. Ich will mich nie wieder auf einen Plan einschießen, ihn im Kopf durchexerzieren, bis er ganz ausgeleiert ist – weil mich genau das in eine Situation gebracht hat, mit der ich nicht umgehen konnte: In eine Situation frei von jeder Gewissheit. Vielleicht werde ich nie eine Krippe leiten. Das wird dann auch ziemlich okay so sein. Denke ich.

Manchmal scheitere ich an meinem eigenen Wollen: Ich will viel, erwarte viel, sehe viel. Viel von allem erfordert aber vor allem auch eines: Viel Verarbeitung. Irgendwie muss dieser Berg an Dingen sortiert werden. Sortiert, wie ich es mit meiner Schmutzwäsche tue. Viele Dinge landen bei meinen Freund*innen, manche früher, andere später. Andere kotze ich ins Internet. Sehr Ausgewähltes landet auf diesem Blog. In wirklich kostbaren Momenten halte ich inne und schreibe Tagebuch (viel zu selten und oft mit viel zu viel Abstand zu der Situation). Und jeden Tag, seit März schon, schreibe ich ein paar Worte zum Tag in dieses wundervolle Buch:

Wenn ich meinem Wollen nachhorche, dann weiß ich, dass dieses Zuviel manchmal in so viele Richtungen zerrt, dass ich mir vorkomme, wie ein Luftballon im Angesicht einer Nadel. Aber: Ich schreibe Selfcare groß und das hat sich immer als Goldschatz erwiesen. Für mich ist Selfcare so vieles: Etwas Schönes kochen, einfach mal eine Stunde lesen, mir zwei, drei Stunden Zeit für einen langen Blogpost nehmen können, durch meinen Lieblingsdrogeriemarkt laufen und an Naturkosmetik schnuppern, ein Bad nehmen (leider zumindest am Studienort Dank Fehlen einer Badewanne aktuell nicht möglich), eine Serie gucken, die sich nach Zuhause anfühlt (besonders schön, wenn man über zwei Autostunden weit weg von den Menschen wohnt, die einem dieses Gefühl geben könnten – Stars Hollow, One Tree Hill und all ihr anderen Orte: Danke <3), eine Tasse Tee trinken, einem Menschen schreiben, der einen IMMER aufheitern kann und für den man stets das selbe tun würde, nachts oder ganz früh morgens Auto fahren, überhaupt: Dinge zu Zeiten tun, wo alle noch zu schlafen scheinen, etwas Sortieren (Unterlagen ablegen entspannt mich total!)… Woran ich arbeite: Einfach Ausschalten, zum Beispiel das Handy. Den Laptop. Die Musik. Alle Einflüsse, die das Fokussieren auf sich selbst oder auch auf Selfcare-Dinge erschweren. Als Kind konnte ich hunderte Seiten am Stück lesen, mittlerweile ist meine Aufmerksamkeitsspanne lächerlich gering. Selfcare ist für mich auch: Darüber nachdenken, was ich für mich tun kann, um weniger in Verzug zu geraten. Wie ich mich besser organisieren kann. Vor allem in Bezug auf den Balanceakt zwischen Uni und Arbeit. Ein halbes Jahr lang 40-Stunden-Woche liegt jetzt hinter mir. Insgesamt habe ich kein Problem mit 40-Stunden-Wochen, das Schwierige ist einfach das ständige “Umschaltenmüssen” zwischen Theorie und Praxis, zwischen Studentin- und Bezugspersonsein. Man glaubt gar nicht, wie anders die Seiten sind, Kinder in einem Hervorrufen. Seiten, die einem manchmal auch ein bisschen Angst machen, wenn man bemerkt, dass man sie mit nach Hause trägt. (Gebt mir noch ein paar Monate und ich habe keinerlei Hemmungen mehr, mich singend mit Kindern zum Affen zu machen. Was ich dann hoffentlich nicht auch an die Uni weitertrage…)

Und manchmal, da tue ich Dinge, mit denen ich mich selbst überrasche. Vor kurzem habe ich mich als Mentorin für die neuen Erstsemester beworben. Eine Woche vor mindestens 20 Fremden zu stehen und ihnen zu erklären, wie Studieren geht, das hätte mir vor nicht einmal drei Jahren noch Schweißperlen auf die Stirn getrieben und mich nahezu in eine Panikattacke versetzt. Mittlerweile, da habe ich nur noch “Angst”. Das ist ein Fortschritt, vor allem, weil es eine positive “Ich traue mich das jetzt, ich traue mich das jetzt wirklich, huch, wie aufregend”-Angst ist.

“We’re almost there and nowhere near it.
All that matters is we’re going.” – Lorelai Gilmore

An anderen Tagen, da bin ich ganz zerrissen zwischen Heim- und Fernweh, kann aber kaum den Finger drauf legen, was “Zuhause” ist oder wo ich gerne anfangen würde, die Ferne zu suchen. Meine Wohnung ist mir zwar ein Zuhause, aber sie ist irgendwie nicht mein Zuhause. Weil Zuhause für mich viel mit anderen Menschen zu tun hat. Es gibt Momente, da träume ich davon, irgendwann in einer hellen Landhausküche zu stehen, zwölf Leute rumoren durchs Haus, irgendwo bellt ein Hund, es regnet seit Stunden in Strömen, das Feuer im Ofen prasselt, im Wohnzimmer haben Kinder (wessen auch immer) eine Höhle gebaut – Familie, Freunde, alle sind um mich und ich kann meine Arme um sie schlingen, wann immer ich will. Und es gibt Momente, da will ich mir einfach nur meinen Trekkingrucksack aufschnallen, die Wanderschuhe schnüren und irgendeinen Berg bezwingen, eine Weile mit mir allein sein, alles hinter mir lassen, keine Mails lesen, keine Termine haben, nicht an die nächste Prüfung denken müssen, an das nächste Vorstellungsgespräch, einfach Dinge sehen, tasten und riechen, die ich noch nie erblickt, gespürt oder beschnuppert habe. Ich denke, diese Balance wird mir leichter fallen, solange nicht irgendwie alles “auf Zeit” ist. Das erste Jahr meines Studiums (zumindest: dieses Studiums) liegt nun hinter mir. Noch zwei Jahre und ich werde diesen Ort (sehr wahrscheinlich) wieder verlassen. Meine Arbeitsverträge sind zeitlich befristet, einer läuft Ende des Monats aus, der andere wird im Herbst verlängert. Natürlich gibt es die Überlegung, was ich tue, wenn ich im 6. Semester von einem Arbeitgeber das Angebot bekomme, übernommen zu werden – sage ich dann zu? Sehe ich mich weiter um? Will ich zurück “nach Hause”? Zurück nach Hause bedeutet mit ziemlich großer Sicherheit jedenfalls nicht, dass ich in näherer Zeit wieder in mein Elternhaus ziehe. Ja, ich habe mich irgendwie mit dem Ort ausgesöhnt, den ich während meiner Pubertät manchmal am Liebsten mit einer Dampfwalze plattgemacht hätte, aber mir fehlt dort ein bisschen die Vielfalt der pädagogischen Einrichtung und ihrer Konzepte. Ich suche nach irgendetwas … Alternativem. Vielleicht nach einer Anstellung auf einem Bauernhofkindergarten (tiergestützte Pädagogik, Gemüse mit den Kindern ernten, mit den Gummistiefeln durch Matsch stapfen, nah an der Natur sein – das ist meine Utopie von Kindererziehung!) oder zumindest nach einem Job in einer Krippe. Der U3-Bereich ist mein Steckenpferd und ich würde auch gerne meine Bachelorarbeit in die Richtung schreiben (aktuell tanzen neben U3-Themen ala “Eingewöhnungskonzepte”, “Der volkswirtschaftliche Nutzen von Krippenplätzen” oder “Professionalisierung im U3-Bereich” aber auch Themen wie “Die Kita als gendersensibler Raum” und “Sollte der Dualismus Fachschulausbildung/Hochschulstudium beibehalten werden?” in meinem Kopf herum).
Näher nach Hause soll es 2016 aber schon gehen, zumindest näher als 2 Autostunden oder 4 Stunden mit den Öffis. Münster, Düsseldorf, Köln… Irgendwas in die Richtung. (Außer Berlin schreit “Ich will dich”, dann knicke ich vielleicht noch einmal für ein paar Jahre ein.) Dass ich mit diesem Wunsch nicht alleine bin, habe ich bei der Vorstellung unserer Kurzfilme im Nebenfach Kunstpädagogik gemerkt, wo wir gemeinsam mit vielen 6. Semestlerinnen saßen, die allesamt in diesen Kurzfilmen das Ende ihres Studiums reflektiert haben. Im Studium werden wir immer wieder dazu angehalten, unsere eigene Biographie zu reflektieren, um unser Selbstbild zu stärken, die bestmögliche angehende Erzieherin zu sein, die wir sein können. Ich glaube, das merkte man diesen Filmen extrem an. Die eigene Biographie zu reflektieren, hat – zumindest für mich – extrem viel damit zu tun, mich zu fragen, wo ich herkomme und was das mit und aus mir gemacht hat.

Der Weg ist noch lang. Ich hoffe, ich habe genug Proviant und wenig Ballast dabei.

“If you don’t know where you are going,
any road will get you there.”
– Lewis Caroll



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