Mirka von Lilienthal

Für was eigentlich?

Und dann kamen auf einmal all die Dinge, von denen sie gedacht hatte, noch Zeit zu haben, bevor sie einträten. Das weiße Laken und das blasse Gesicht ihres Vaters, der darin fast zu verschwinden drohte. Das ging doch nicht, dachte sie, dass einer, der immer wie eine Eiche gewesen war, plötzlich fahl und blass und ausgemergelt im Bett lag. Dass der Vater, der “Ich halte dich” gesagt hatte und dann ihr Fahrrad losgelassen hatte, zum ersten Mal ohne Stützräder, und der dann frenetisch gejubelt hatte, als sie es geschafft hatte, mehr als hundert Meter geradeaus zu radeln, dass der da jetzt in einem Dreibettzimmer lag und sie zur Entscheidungsträgerin machte. Eltern starben nicht, wenn man noch nicht einmal 30 war. Punkt. Das hatte sie so beschlossen und da war sie sich verdammt einig mit dem Rest ihrer Generation. Aber der Rest ihrer Generation bekam auch keine Kinder, wenn man noch nicht einmal 30 war und sie dachte an Marlon, der mit Tonia und Linus in der Cafeteria saß und vermutlich gerade zum siebten Mal “Conni feiert Weihnachten” vorlas und mit den beiden ausrechnete, wie oft sie alle noch würden schlafen müssen, bis das Christkind käme. Sie hatte Tonia und Linus nie ein Christkind erfinden wollen, aber Marlon war Grundschullehrer und verstand da wenig Spaß.

Es war Marlon gewesen, der geweint hatte, als der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war. Sie hatte lediglich den Alkohol in den Keller geräumt, angefangen Kräutertee zu trinken und sich all ihre Ängste wochenlang aus dem Leib gekotzt. Es war auch Marlon gewesen, der entschieden hatte, dass sie Geburtsverkündungskarten verschicken würden und der die kitschige Teddybär-Bordüre fürs Kinderzimmer ausgesucht hatte. Sie hatte Marlon machen lassen und sich gefreut, weil er sich so freute und manchmal Zwiegespräche mit Tonia geführt, wenn niemand zuhörte, denn es war ihr irgendwie peinlich gewesen, dass sie mit einem Embryo sprach. Ich habe Angst, alles falsch zu machen. Ich habe Angst, dass du mir vom Wickeltisch fällst. Ich habe Angst, dass du in der Grundschule lieber mit zu deiner besten Freundin nach Hause gehst, weil deren Mutter besseren Kuchen backen kann als ich – oder überhaupt irgendeinen Kuchen. Ich habe Angst, dass Marlon der gute Cop sein wird und ich immer der böse. Ich habe Angst, Angst, Angst. Vielleicht war alles viel glimpflicher verlaufen, als sie für mich möglich gehalten hatte, weil sie so von Angst zerfressen gewesen war. Die ganzen endlosen Monate ihrer Schwangerschaft. Als sie dann das kleine schrumpelige und schreiende Bündel in den Armen gehalten hatte, da hatte sie Ehrfurcht verspürt. Ehrfurcht, aber keine Angst mehr.

Sie hatten Tonia nach ihrer Großmutter Antonie getauft und jetzt, wo sie ihren Vater da so liegen und schwer atmen sah, da fragte sie sich, ob Tonia noch genug Erinnerungen an ihren Opa haben würde, um ihren Sohn eines Tages Fritz oder ihre Tochter Frieda zu nennen. Sie fragte sich, ob er noch da sein würde, um zu erleben, wie Marlon sich nicht trauen würde, Tonias Fahrrad einfach loszulassen, in stummer Angst, ihrem Urvertrauen zu schaden. Sie fragte sich, ob er die 45 Tage bis Heiligabend noch packen würde. Und sie fragte sich auch, ob sie sich hier gerade wieder in Ängsten verstrickte, die irrational waren und überbordend und die sich dann als so unnötig herausstellen würden, wie die Angst, Tonia innerhalb kürzester Zeit kaputt zu machen. Sie war so wenig am Muttersein gescheitert, dass sie nicht einmal zwei Jahre später Linus bekommen hatten und dass sie an Weihnachten verkünden würden, dass sie nächstes Jahr noch ein Baby bekommen würden. Drei Kinder. Sie war ehrfürchtig, immer noch, aber nicht ängstlich, zumindest nicht deswegen.

Manchmal verfluchte sie die Anstrengungen, die es mit sich brachte, Teil eines Beziehungsgeflechts zu sein. Die Anstrengungen, Rollenkonflikte auszuhalten, ohne sich an ihnen zu zerreiben. Mutter sein. Tochter sein. Frau sein. Jemandes Frau sein. Teil eines Freundeskreises, der sich schon längst nicht mehr sicher war, ob er sich überhaupt leiden konnte. Und irgendwer erwartete dann auch noch, dass sie Karriere machte, dass sie dazu beitrug, dass ihre Familie genug Geld hatte, um zwei Autos und mindestens einen Urlaub pro Jahr möglich zu machen. Sie hatten nicht einmal ein Auto und der letzte Urlaub, den hatten sie gemacht, als Tonia noch das winzige schrumpelige Baby war, vor dem sie so Angst gehabt hatte. Zwei Wochen Norderney und Tonia hatte elf Tage davon mit Magen-Darm-Infekt dafür gesorgt, dass sich niemand auch nur eine Minute entspannen konnte. Und dennoch, da war sie sich schon rein rechnerisch fast sicher, hatten sie Linus in diesem Urlaub gezeugt.

Sie musste sich zwingen, auf dem unbequemen Stuhl am Krankenbett sitzen zu bleiben. Krankenhäuser machten ihr Angst, von jeher. Sie musste sich zwingen, nicht hilfesuchend zu ihrer Mutter zu blicken, wenn die Ärzte primär mit ihr sprachen. Sie musste sich zwingen zu verstehen, dass ihre Mutter so erschöpft und verzweifelt war, dass sie nicht in der Lage war, dem zu lauschen, was die Ärzte sagten. Dem, was sie selbst zwar verstand, aber was sie immer noch unter “Erwachsenendinge” verbuchte, obwohl sie jetzt eine von ihnen war. Eine Erwachsene. So, als hätte sie ihr Leben im Griff. So, als würde in ihrem Kühlschrank niemals etwas schlecht. So, als wäre ihr Konto immer gedeckt und ihre Wäsche stets frisch gewaschen. Jedenfalls hatte sie sich das Erwachsenenleben so vorgestellt: Geordnet. So, wie das Leben ihrer Eltern immer auf sie gewirkt hatte. Langweilig, ja. Aber geordnet, angstfrei, fern von unwägbaren Risiken. An den meisten Tagen wollte sie sich nur mit einer Bibi Blocksberg Kassette und Keksen im Bett zusammenrollen und von den großen Ferien träumen, so, als wäre sie wieder so alt wie Tonia und nicht alt genug.
Aber: Alt genug für was eigentlich?

(Bild via efaja.)



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