Chi Do Ha

No one can help everyone but everyone can help someone.



Die Nacht davor war lang, denn wider aller Erschöpfung konnte ich kein Auge zudrücken. Zählte Schafe. Dachte über Unsinn nach. Ich freute mich schon seit Wochen auf diesen Tag, wo ich auf dem Flohmarkt endlich ein paar meiner Sachen loswerden und etwas Kleingeld dazu verdienen konnte. Ich mag es, mit Menschen zu reden, zu feilschen, schöne Mädchen zu beobachten und nach und nach immer mehr Münzen in meine Box reinzuschmeißen.

Sie kam früh. Gegen 10. Vielleicht 9:30 Uhr. Zeigte auf einen kleinen blauen Hut und fragte: "Was willst du dafür?". "3 Euro", sagte ich und sah, wie sie ihre Unterlippe nach vorne schob. "Ich kann dir nicht mehr als 50 Cent geben", schlug sie vor und schaute mich an. Ich schüttelte den Kopf und ließ mich nicht beeindrucken. "Nee, tut mir leid." Ich ließ meine Preise nicht gern kaputt machen, schon gar nicht am frühen Morgen. Mein Kopf fing an zu pochen und ich griff intuitiv zu dem Kaffeebecher. Sie blieb geduldig. "1.50 Euro", murmelte ich leicht genervt. Sie fing an, mir etwas von einer Rente in Höhe von 450 Euro zu zahlen und plötzlich horchte ich auf. Entdeckte die tiefen Falten, die müden Augen. Erinnerte mich an Zeiten, als ich von Zuhause auszog und Hartz IV beantragen musste. 450 Euro im Monat, als Schülerin ohne Nebenjob. 450 Euro für Essen, Kleidung, Schulsachen, Handy, Reisen. Ich hatte glücklicherweise nicht sonderlich viele Wünsche und konnte mir einiges beiseite legen, aber viel Geld war es nicht. Sie erinnerte mich an das 14-jährige Mädchen, das ich damals war, nur 50 Jahre älter. Arm. "1 Euro", versuchte sie noch einmal. "Ja, kannst du haben." Sie nickte, holte ihre Geldbörse aus einem Stoffbeutel, der schon bessere Tage gesehen hatte, und schien sich zu freuen. "Nein, so, du kannst ihn so haben, nimm."

Sie schaute mich irritiert an und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie hätte eine Augen-OP hinter sich und ihre Sehstärke hätte sich maßgeblich verschlechtert. Sie müsste die Augenpartie nun sehr gut schützen und bräuchte deshalb einen Sonnenhut. Ich stand auf der anderen Seite des Tisches und konnte nicht viel verstehen, aber irgendwie war das alles auf einmal nicht mehr von Bedeutung. Ich hatte ihr die Geschichte mit der Rente nicht wirklich abgekauft (Wer einmal auf dem Flohmarkt am Mauerpark in Berlin verkauft hat, kann bestätigen, wie kreativ die Leute werden können), aber jetzt, als sie den Hut vorsichtig nahm, musste ich mich an der Tischkante festklammern, um gerade stehen zu können. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich so viel Dankbarkeit in einem Blick gesehen. Als sie ging, waren ihre Wangen nass. Sie hielt eine Hand vor den Mund und ihre Schultern bebten. Ich blieb sprachlos zurück. Wollte ihr hinterher laufen und sie in den Arm nehmen. Meine Beine versagten.

Das alles ist exakt so vor einer Woche passiert und während ich heute Nacht diese Zeilen etwas aufgewühlt niederschreibe, fühlte es sich noch immer unwirklich an. Ich weiß nicht recht, was ich euch mit der Geschichte sagen möchte, wahrscheinlich wollte ich sie bloß irgendwo schriftlich für mich festhalten. Mir von nun an vornehmen, weniger misstrauisch zu sein und mehr zu glauben. Vertrauen. Helfen. Auch wenn das, was ich letzten Sonntag zurückbekommen habe, kein Glück ist, wie man es gern hätte. Vielmehr eine Mischung aus Mitleid, Trauer und Verwirrung. Vor allem aber die Gewissheit, etwas Richtiges getan zu haben. Das ist manchmal alles, was zählt. Ich wünsche der Dame alles erdenklich Gute und wenn ich einen Glauben hätte, würde ich für sie beten. Dass es ihren Augen nicht schlechter geht. Und vielleicht, dass wir uns einmal wiedersehen. Sie braucht nicht dankbar zu sein. Wir sind Menschen. Wir sind alle gleich.
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