Weihnachten alleine


oder: wie ich mich nicht umbrachte, keine Drogen kaufte und nicht mitgeschnackt wurde.

Weihnachten alleine zu verbringen ist für viele Menschen eine Horrorvorstellung – und ich kann direkt sagen, es ist schlimmer als man es sich vorstellt – und gar nicht so schlimm wie man es sich vorstellt.
Ja, Ihr seid mal wieder richtig gelandet in der zentralen Ausgabestelle für paradoxe Weltansichten.
Wie ist das also mit Weihnachten und allein sein?

Erstmal ist es scheiße.

Denn selbst wenn man sonst ganz gut mit sich selbst klarkommt, an Weihnachten sind plötzlich alle verpflichtet – oder verbringen freiwillig Zeit mit ihrer Familie. Ab 16 Uhr herrscht Totentanz auf Facebook, und selbst die emsigsten Twittermenschen funken in stark verringerter Frequenz.

Es gibt also nicht mal mehr die Möglichkeit, sich mittels Social Media eine Traumwelt aufzubauen, in der man nicht alleine ist. Schreibt auch keiner mehr, und wenn, dann muss man erklären warum man alleine ist. An Weihnachten!
Puha. Wenn man eher so der wenig nachdenkliche Typ Mensch ist, kommt man vermutlich ganz gut klar. Ich bin eine Träumerin, ich denke ständig, das weiß man ja. Die Gedanken werden immer lauter, der Lüfter des Rechners unter dem Schreibtisch auch.

Hunger? Nö. Extra leckeres Essen gekauft, wenn alle anderen sich den Bauch vollschlagen, kann ich das ja wohl auch. Nur für eine Person zu kochen bin ich gewohnt, alles kein Thema. Aber kein Hunger – der Tag lässt sich auch gut mit Milchkaffee und Zigaretten überstehen.

Und wenn alle anderen sich schickmachen, kann ich das auch. Inklusive falscher Wimpern und Chanel-Lippenstift. Das volle Programm.
Was mach ich damit? Fotos. Damit das Herbstmonologmädchen mir wieder sagen kann, wie schön ich bin. Das lese ich nämlich immer so gerne. Ausserdem will ich dringend bei Magis Silvesterlook-Gewinnspiel mitmachen. Passt ja, irgendwie.

Fotos gemacht, bearbeitet. 17 Uhr. Die Timeline füllt sich so langsam mit Fotos von Weihnachtsbäumen. Die Menschen, die sonst Essen posten, das bestimmt in echt total super aussieht, auf den totgeblitzten Handyfotos aber irgendwie immer so aussieht wie schonmal gegessen, posten heute Weihnachtsbäume. Die Weihnachtsbäume kommen mit wenigen Ausnahmen nicht besser weg als das Essen, ausser dass sie auf Grund der gewünschten Bildstimmung nicht das Schicksal des totgeblitztwerdens erleiden müssen.
(Und wenn mir das jetzt einer übelnimmt und sauer ist, weil ich seinen Weihnachtsbaum beleidigt hab: Es gibt so Listen auf Facebook. Zeig mir nächstes Jahr einfach nicht Deinen Weihnachtsbaum. Bau eine Grinch-Liste.)

18 Uhr. Vereinzelt Berichte über Fressgelage. Die Polizei hält ein Eingreifen aber wohl für übertrieben. (Zum eigentlichen Polizeiteil komme ich gleich noch.)

Ich sehe mir auf Netflix die Miley-Cyrus-Version von LOL an. Was hab ich nur erwartet? Esse einige Rauchmandeln und Schinken, und Salami, und Schokolade. Ha, kann mir doch den Bauch vollschlagen.

20 Uhr. Die Berichte von der Front über Mehr-Gänge-Menüs und Alkohol verdichten sich. Immer noch kein Eingreifen der Polizei.

Ich will Bier.

20:05: Anziehen. Ja, ich hab den ganzen Tag mit vollem Makeup und frisch frisiert in Gammelklamotten zu Hause rumgehangen. Frischluft, Hafenluft, jetzt.

Schön warm einpacken. Ist ja Weihnachten, also Winter.
Draußen vor der Tür ist Sommer. Windig, aber warm. Orrrr.
Is mir egal, ich lass das jetzt so.
Ohne Musik auf den Ohren ab über die Davidstraße Richtung Brücke 10.

St. Pauli ist seltsam still, nur einige wenige (vermutlich türkische, ohgott, ist das jetzt politisch unkorrekt?) Mitbürger und jede Menge afrikanische Drogendealer laufen durch die Gegend. Nein, die Drogendealer stehen. An ihren Ecken. Wie immer.
A propos stehen: in der Davidstraße vor Burger King stehen keine Mädels. Ob die wohl erst später für’s Weihnachtsgeschäft anreisen?
Unten an Brücke 10 ist es leer wie immer um diese Zeit im Winter. Vereinzelt Pärchen auf Weihnachtsspaziergang, sie riecht nach Douglas, er nach Persil.
Da ist er, der Kloß im Hals.
Es geht ja gar nicht darum, dass mir zwingend danach ist, in trauter Zweisamkeit unter einem Baum zu sitzen (mal abgesehen davon, dass das schön wäre, aber das wäre dann keine Tanne, es wäre Sommer, und der Baum stünde irgendwo in der Stadt und hätte seine Wurzeln noch). Es geht mir darum, dass keiner da ist.
Ein einsamer Mensch steht da rum, ich kann aber sein Gesicht nicht sehen. Bin kurz davor, ihn zu fragen ob er mit mir Bier trinken will.
Lasse es dann aber doch lieber, nicht dass er nachher behauptet, ich hätte ihn mitgeschnackt.

Ich beschließe, Richtung Fischmarkt zu laufen. Die übliche Strecke für Momente, in denen ich die Hafennähe besonders genießen will.
Auf der Höhe des Golden Pudel Club hält auf der Bushaltestelle ein Polizeiwagen.
Männlicher und weiblicher BeamterIn steigen aus, und sprechen mich an.
Meine Erscheinung passt offenbar auf eine Frau, die gesucht wird, weil sie sich umbringen will. Wer das behauptet, frage ich. Der Lebensgefährte, sagt der Polizist. Ich sag “den gibt’s nicht”. Er lässt sich dennoch meinen Ausweis zeigen und notiert sich meinen Namen. Sagt mir dann noch, dass er eigentlich jetzt gerne nen Kaffee mit mir auf der Treppe trinken würde, aber dass er ja leider eine suizidale Frau suchen muss.

Hab ich auch noch nie gehört, “ich mag Dich, aber Du bist mir nicht suizidal genug.”.

Er sagt, dass ich jetzt aber auch nicht so richtig glücklich aussehe. Ich sage, wer an Heiligabend allein durch die Gegend läuft, ist vermutlich auch nicht so glücklich, aber ich bring mich nicht um, echt. Ich spare mir den Hinweis, dass ich solche Spielchen ja kenne (Psychovergangenheit sei Dank) und mich dann im Zweifel selber in Ochsenzoll einweisen würde. Nein, musste ich noch nie tun, kenne ich aber aus meinem Umfeld. Ist auch nix dabei, lieber lässt man sich ein, zwei Nächte wegsperren als dass man Mist baut.
Ich bin dabei ein bisschen gerührt, auch wenn ich mir sicher bin, dass er nur aus seiner polizeilichen Fürsorge heraus fragt.
Das besorgt ihn erst recht, er kann ja nicht wissen, dass ich ständig und wegen jedem Scheiß heule, und erst recht wenn ein Polizist auf der Suche nach einer Lebensmüden der erste Mensch an dem Tag ist, mit dem ich spreche.
Als der Polizist wieder in sein Auto steigt, frage ich mich, ob es wohl okay ist, einen Polizisten im Dienst nach seiner Privatnummer zu fragen.
Über Park Fiction, Verzeihung, Gezi Park, laufe ich zurück, Reeperbahn, Große Freiheit, alles ist ungewohnt leer, fast alles ist zu. Die Lichter sind an, aber es ist so still, kein kochender Hexenkessel, der nach billigem Parfum und Alkohol riecht, wie sonst.
Einzig und allein der Kiosk vorne an der Ecke hat geöffnet, ich hole mir eine Cola light, sehe in Augen die mich erkennen. Das ist sehr wertvoll. Das gibt einem das Gefühl von zu Hause sein – wenn’s nur der Mann ist, der mir Cola light und Zigaretten verkauft, und weiß welche Marke ich rauche.

Wieder in der zu Hause beschließe ich, diesen Tag zu dokumentieren.
Um festzustellen, dass die Angst vor dem Alleinsein an Weihnachten berechtigt ist, aber auch völlig unberechtigt. Denn (uh, Fazit!) wenn ich morgen aufwache, dann weiß ich dass es wieder eine Sache mehr gibt, die ich gut kann, und die vermutlich viele Menschen nicht so gut können:

Allein sein. Auch wenn’s manchmal ein bisschen wehtut.

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