Willi braucht Hilfe


oder: eines Tages werden wir selbst wie Willi sein.

An dem Tag, an dem wir unsere Wohnung besichtigten, sah ich Willi das erste Mal. Vielleicht erklärt das, warum er so wichtig ist – erste Erinnerungen an neue Lebensabschnitte brennen sich in meinem Kopf fest.

Wir standen mit unserem Vormieter in der Wohnungstür und unterhielten uns noch etwas, und dann schaute er über meinen Kopf hinweg und sagte: “Hallo Willi!”.
Wie alt Willi ist, weiß ich nicht, aber er ist alt. Manchmal denke ich, er könnte so alt sein wie die Häuser hier, Willi, erbauet 1878.
Jedenfalls ist klar, dass er nicht mehr so richtig funktioniert. An den meisten Tagen schafft er es nicht mal mehr, sich richtig anzuziehen. Dann läuft er in einer schmutzigen alten Feinrippunterhose und Unterhemd vor dem Haus lang und klappert mit einer Gabel an einem Metallnapf rum, weil er seine Katze sucht. Wenn “Besuch” da ist, also wenn jemand anders im Haus Besuch hat und sich vor dem Haus aufhält, zieht er sich einen Bademantel über. Ab und zu geht er einkaufen, und dann gibt es das volle Programm, sogar mit Mütze und Hose.

Manchmal, wenn er einen klaren Tag hat, trägt er anstatt des Unterhemds ein gelbes Shirt, auf dem “Twenty Flight Rock” steht. Das widerlegt meine Theorie, dass Willi praktisch ein Dinosaurier ist, ein wenig. Aber klare Tage hat Willi in letzter Zeit nicht mehr so oft.

Vor einigen Monaten fanden wir einen Brief einer Nachbarin im Briefkasten, die sich besorgt äusserte. Der Gestank aus seiner Wohnung werde immer schlimmer, und sie wisse nicht, was sie tun soll. Wir wussten das auch nicht.

Eines Tages war plötzlich die Polizei im Haus. Willi hatte offenbar den ganzen Tag seine Vorhänge noch nicht geöffnet, und ein Nachbar vom Block gegenüber hatte sich Sorgen gemacht. Willi fand das ganze natürlich völlig übertrieben, aber ich war irgendwie froh, dass es Menschen gibt, die wenigstens im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf andere Menschen achten.

Ich fing an, Pakete absichtlich von Willi anzunehmen zu lassen, auch auf die Gefahr hin, dass die Sachen dann total miefig bei mir ankamen. Denn wenn ich Willi einige Tage nicht mit dem Napf draussen klappern höre, werde ich nervös, und so kann ich beim Abholen meiner Pakete wenigstens immer mal schauen, ob er noch lebt.
Ich bin ja Expertin für Horror-Kopfkino, und in Willis Fall ist es ein Film, in dem der alte Mann von seiner Katze gefressen wird. Oder mit seinem alten Kohleofen, den er aus Kostengründen mit Holz befeuert, das Haus abfackelt. Man kann riechen, wie kalt es ist, denn wenn es kalt ist, dann heizt Willi, und die ganze Straße riecht nach Grillfest.

Manchmal rumpelt es auch in Willis Wohnung – er wohnt direkt über mir. Aber meistens sind es Holzscheite, die er rumpelt durch die Gegend schleppt, nichts was weiter stört oder mir Sorgen macht.

Bis gestern Abend – und ich weiß nicht, warum ich nichts gemacht habe. Vielleicht weil es schon so spät war, vielleicht weil ich nicht geschaltet habe, vielleicht weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war?

Es rumpelte. Gewaltig. Als würde jemand umziehen oder Möbel umstellen.

Heute morgen, ich lag noch im Bett, meinte ich unsere Türklingel gehört zu haben. War mir aber auch nicht sicher, und mit Ohropax im Halbschlaf… Offenbar öffnete jemand anders im Haus die Tür, und dann hörte ich langsam Frauenstimmen zu mir durchdringen. “Willi? Mach mal die Tür auf! Willi! Ist alles okay bei Dir?”.

Ich rappelte mich wach, zog mir etwas an, und ging hoch.

Zwei Damen standen vor der Tür, Willi öffnete nicht, und dann ging das ganze Programm los: Polizei, Krankenwagen, Tür aufbrechen… Bis Willi etwa eine halbe Stunde später von zwei Sanis aus seiner völlig verwüsteten Wohnung geführt wurde. Willi selbst, auch völlig verwüstet, wehrte sich mit Händen und Füßen und diskutierte mit den Sanitätern.

Fakt ist: Willi hat eine gesetzliche Betreuerin. Willi hat in der Theorie auch Menschen, die sich zumindest ein wenig um ihn kümmern. Aber all das ist nicht genug. Es ist einfach nicht genug, und mit mir macht das ganz viel Gefühl.

Zum einen Mitgefühl, denn Willis Zustand ist würdelos. Niemand sollte in einer völlig verwahrlosten Wohnung leben müssen, ungewaschen und ohne Badezimmer, nur mit einer Toilette in der Abstellkammer. Mir ist klar, dass es Menschen auf der Welt gibt, denen es noch viel schlechter geht als Willi, und die dankbar für eine Toilette mit fließend Wasser in einer Abstellkammer wären, aber das hier passiert direkt vor unseren eigenen Haustüren, direkt in unseren eigenen Häusern. Es ist ein Gefühl von Machtlosigkeit. Ich bin keine Angehörige, was kann ich tun? Wie oft kann ich vermeintlich grundlos die Polizei rufen, wenn mir etwas seltsam vorkommt, so wie gestern abend?

Ein weiteres Gefühl ist Angst. Angst, irgendwann einmal selbst so zu sein wie Willi. Nicht mehr einschätzen zu können, ob ich für mich selbst sorgen kann oder nicht.

Unsichtbar zu werden, in meiner Hilflosigkeit ignoriert zu werden.

Ich will nicht, dass die Willis dieser Welt weiterhin unsichtbar sind, und deswegen wünsche ich mir, dass Ihr hinseht. Auch wenn Ihr nichts tun könnt und die Hilflosigkeit sich so unangenehm anfühlt. Und wenn jemand Ideen hat, was man tun kann, als Nachbar, Bekannter, als derjenige der hinsieht und merkt, dass da was nicht stimmt, dann freue ich mich sehr über Kommentare.

#willibrauchthilfe

(Foto via deviantart)

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