Mirka von Lilienthal

Die Sache mit dem “Warum?”.

Viele werden es vermutlich schon nicht mehr hören können, dieses eine kleine und eigentlich so harmlose W-Wort: Warum? Warum muss ich ins Bett? Warum muss ich in die Kita? Warum regnet es? Warum muss ich mich anschnallen? Warum ist Gras grün? Warum bekommst du ein Baby? Warum darf ich das nicht anfassen? Warum darf ich nicht hauen? Warum darf ich damit nicht spielen? Warum habe ich sowas nicht? Warum muss ich Zähne putzen? Warum darf ich keine Milchschnitte haben? Warum sterben Menschen? Warum kannst du das schon und ich nicht? Warum guckst du immer in dein Handy? Warum hörst du mir nie zu? Warum schreist du so laut? Warum antwortest du nicht? Warum, warum, warum? Nach dem ersten Warum ist selten Schluss, jede Erklärung lädt zum Hinterfragen ein, vor allem, wenn das Kind sich ungerecht behandelt fühlt – was gerade bei elementaren Fragen wie “Warum hast du nie Zeit für mich?” manchmal nicht ganz falsch zu sein scheint. Die meisten Fragen sind aber auf grenzenloser Neugier und Wissensdurst begründet. Kinder wollen sich ein Verständnis für Abläufe und Prozesse, für Entwicklungen und Strukturen zu eigen machen.

Ich arbeite seit einer Weile eher seltener mit Ü3-Kindern, meistens sucht die Warum-Phase Eltern und Pädagog*innen erst um den 3. bis 4. Geburtstag heim. Man könnte also sagen: Ich bin vom Haken. Aber bin ich das wirklich? Ich habe da in der letzten Zeit mal genauer drauf geachtet. Ich arbeite im Moment primär mit Kindern zwischen 12 und 15 Monaten zusammen, die meisten können inzwischen laufen (wenn auch oft noch schwankend, mit in die Luft gereckten Armen und völliger ‘Hey, ich kann ja jetzt laufen, wie cool!’-Begeisterung ins Gesicht geschrieben), gesprochen wird sehr wenig bei uns, auch wenn jetzt noch Zweijährige dazustoßen, die das vermutlich ein bisschen aufmischen. (Damit keine Missverständnisse entstehen: Wir Erwachsenen reden natürlich. Viel. Mit den Kindern. Alltagsintegrierte Sprachförderung!) Natürlich stellen unsere Kinder noch keine ausgefuchsten “Warum?”-Fragen. Aber sie zeigen uns deutlich, dass sie sich bereits jetzt für das “Warum” hinter etwas interessieren. Durch Mimik und Gestik. Durch Juchzen und Schreien. Wenn etwas nicht aufgeht, wenn etwas herunterfällt, wenn etwas nicht passt, wenn wir das Essen kalt pusten, wenn wir etwas in einen Schrank räumen… Auch faszinierte oder verwirrte Blicke können schon ein “Warum?” darstellen und ausdrücken.

Durch die Arbeit mit Kindern habe ich mir selbst ein Stück meiner verloren geglaubten Neugier zurückgeholt. Im letzten Jahr habe ich auch viel mit 4- und 5-Jährigen gearbeitet, deren Fragen mich oft ratlos zurückließen. Fragen, die ich nur unzureichend beantworten konnte oder nicht wirklich kindgerecht. Fragen, die bei mir für mich irgendwie peinliche Wissenslücken offenlegten, obwohl ich mir ziemlich sicher war, das irgendwann mal in der Schule gelernt zu haben. Vor allem Tier- und Pflanzennamen, Umweltprozesse, Abläufe im Jahresrhythmus… Zum Glück habe ich viele angehende Naturwissenschaftler*innen im Freundes- und Bekanntenkreis, die mir sicher die eine oder andere Wissenslücke füllen können – insofern sie dazu in der Lage sind, mir das so zu erklären, als wäre ich 5.

Auch im Alltag merke ich, dass mich das “Warum?” gerade hinter kuriosen Dingen ziemlich beschäftigt. (siehe Fotos) Warum schaffen es Menschen nicht, Einkaufswagen so zurückzubringen, dass sie nicht den halben Parkplatz lahmlegen? Warum entsteht dieser Müll in der Regionalbahn von Friedberg nach Gießen? Dass euch diese Fragen genauso beschäftigen, habe ich die letzten Wochen gemerkt und bin immer noch ganz überrumpelt davon, wie viel Online-Trubel über mich hereingebrochen ist. So viele Favs und Likes auf meiner Facebook-Seite, die bis dato eher vernachlässigt wurde. So viele neue Follower und, weil die Seite Stillen und Tragen meinen Artikel über Wünsche für eine schöne Kindheit geteilt hat, auch hier auf dem Blog. Ich blogge jetzt seit fünfeinhalb Jahren “Aus der Sockenschublade” und twittere genauso lange meine “Verdachtsmomente”. Eine fette “Warum?”-Frage wird mich vielleicht immer begleiten: Warum interessiert das so viele Menschen? Manche von euch sind quasi seit Tag 1 dabei – warum das so ist, ist mir ebenfalls ein Rätsel. Mir ist in den letzten Monaten aufgefallen, dass sich meine Ausrichtung stark verändert hat. Ich schreibe über andere Themen, als 2009. Wäre ja auch traurig wenn nicht, oder? Aber ich kann verstehen, dass nicht alle geblieben sind. Die, die die Kultur auf diesem Blog vermissen (Buchrezensionen und Serienkritiken zum Beispiel). Die, die wegen meiner eigenen Fiktion kamen (ich schreibe immer noch, versprochen). Die, die keine Kinder haben und sich auch nicht für Pädagogik interessieren (wie ich 2009). Vielleicht begegnen wir uns eines Tages doch wieder? In welcher Form auch immer? Ich finde es schade, dass die Themen, mit denen ich anfing, inzwischen so kleingehalten sind. Das heißt nicht, dass sie mich nicht mehr interessieren, sondern liegt eher daran, dass die Prioritäten gerade anders gelagert sind. Wenn ich nicht mehr zwischen Studium, Weiterbildungen, Privatleben und Hobbys hin und her strauchele, dann schaffe ich es vielleicht sogar mal wieder, ein ganzes Buch zu lesen (dieses Jahr habe ich das sogar schon hinbekommen, das mit dem ganzen Buch – leider ging es auch dort um Kinder). Versprechen kann ich nichts – und gerade deswegen freue ich mich, dass so viele kommen und bleiben, ohne meine (thematischen und persönlichen) Veränderungen groß zu hinterfragen. Auf das “Warum?” hätte ich nämlich auch keine Antwort.

Ich selbst jage im Moment jedenfalls vielen “Warum”?s hinterher. Denen, die die Kinder mir (verbal oder non-verbal) stellen. Und denen, die ich mir selbst stelle, wenn ich in Momenten der Rastlosigkeit keine Antwort auf die Frage habe, wo die Reise hingehen soll. (Eigentlich habe ich diese Antwort schon lange gefunden, aber ich bin Königin des “Ich will noch mehr! Wissen! Machen! Erleben!”-Königreichs und das ist manchmal verflucht anstrengend und nervenzehrend.) Auf ein “Warum?” antworte ich übrigens schon länger nicht mehr – egal ob direkt oder indirekt gestellt: “Warum wirst du jetzt bitte nur Kita?” Kita und Kinder sind vieles, aber niemals ‘nur’.

Wenn Eltern und gerade auch Kolleg*innen Kinder auf der Suche nach Fragen abkanzeln, werde ich wütend. Nicht nur, weil das Kind in diesem Moment die Erfahrung macht, dass sein Nachfragen, sein Wissenwollen, sein Wunsch nach Bildung weder erwünscht ist noch wertgeschätzt wird. Nein, auch, weil wir qua Gesetz zu etwas anderem verpflichtet sind (nicht nur wir, die wir mit Kindern arbeiten – Kinder haben allgemein ein Recht auf Bildung und das betrifft somit auch den privaten Bereich). Dem Sozialgesetzbuch kann im VIII. Buch in Bezug auf Kinder- und Jugendhilfe entnommen werden, unter welchen Grundsätzen in Kindertageseinrichtung und in der Tagespflege gefördert und begleitet werden soll:

§ 22 Grundsätze der Förderung
(1) Tageseinrichtungen sind Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in Gruppen gefördert werden. Kindertagespflege wird von einer geeigneten Tagespflegeperson in ihrem Haushalt oder im Haushalt des Personensorgeberechtigten geleistet. Das Nähere über die Abgrenzung von Tageseinrichtungen und Kindertagespflege regelt das Landesrecht. Es kann auch regeln, dass Kindertagespflege in anderen geeigneten Räumen geleistet wird.
(2) Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen
1. die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern,
2. die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen,
3. den Eltern dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können.
(3) Der Förderungsauftrag umfasst Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes.Er schließt die Vermittlung orientierender Werte und Regeln ein. Die Förderung soll sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen.

Lasst uns den Mut haben, Kindern die Utensilien an die Hand zu geben, die sie zum Erforschen benötigen. Sein wir selbst wissbegierig – Kinder lernen am Modell und wenn wir mit gutem, neugierigen Beispiel vorangehen, anstatt “Ist halt so! Das war hier schon immer so! Jetzt frag mir doch keine Löcher in den Bauch!” zu sagen, machen wir schon eine Menge richtig. Und lasst uns die Balance finden, zwischen kleinen Forschern, die Spaß am Lernen und am Suchen nach Antworten haben, und zwischen Kindern, die im Förderwahn der übereifrigen Eltern und Pädagog*innen gefangen genommen werden (Stichwort: Verinselung der Kindheit). Das “Warum?” sollte vom Kind ausgehen, wir sind nur die Forschungsassistenten, nicht die mit dem Forschungsinteresse, nicht die mit der Forschungsfrage.



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