Mirka von Lilienthal

In Namen denken.

Er hatte sie angesehen und beschlossen, dass sie wie eine Neele aussah. Neele war einer dieser Namen, der ihm immer ein Stirnrunzeln abverlangte. Einen kurzen Moment des Zögerns. Neele, nein, das Mädchen, das er für Neele hielt, trug ein smaragdgrünes Kleid und sah ein wenig aus wie jemand, der keinen Facebook-Account hat. In seiner Vorstellung saß sie im Schneidersitz auf Parkettfußboden und schrieb ihm als vorletzter Mensch (neben Oma Gundula) lange SMS ohne Emoticons. Sie weckte Dinge ein und trug beim Backen eine Schürze mit Cupcake-Aufdruck. Ihre Schwester hatte drei kleine Töchter, die sie Tante Neni nannten und die jeden dritten Samstag im Monat einen Ausflug mit ihr unternahmen: In den Tierpark, ins Kino, auf den Abenteuerspielplatz. Irgendwann würde aus Tante Neni Mama Neele werden, die ihren Kindern Geschichten von Einhörnern und Elfen, Trollen und Wichten erzählte und ihre Kindergartentaschen selbst nähte. In seiner Vorstellung arbeitete Neele mit Herz und Händen: Vielleicht war sie Kunst- und Deutschlehrerin oder Heilerziehungspflegerin, Cafébesitzerin oder Krankengymnastin. Vielleicht war sie selbstständig, gab Kochkurse oder verkaufte Strickwaren in einem Onlineshop.
Sie war mit zwei Freundinnen auf der Party, die ganz anders wirkten als Neele. Sie wirkten praktisch. So, als hießen sie Astrid und Claudia. Er hatte schon immer in Namen gedacht. Seine Mutter war eine Barbara und sein Vater ein Jonathan. Seine Eltern hießen Natascha und Bertram. Er dachte auch in Bildern und Farben, Geschichten und groben Konzepten.
Manchmal fehlte es ihm vor lauter Geschichten im Kopf an Mut, eigene zu erleben. Dieses Mal nicht. Dieses Mal ging er zu Neele, um zu erfahren, wie ihre Geschichte wirklich lautete.
Neele stand gerade an der Bar, von ihren Freundinnen war keine Spur. “Hey”, sagte er. “Ich bin Marlon und Grundschullehrer.”
Wenn sie verwirrt war, von seiner Vorstellung, dann ließ sie sich wenig davon anmerken. Sie nippte an ihrem Weinglas, lächelte und sagte:
“Ich bin Josephine und Social Media Managerin bei Nestlé.”
Klirr.

(Bild via Brian Donovan.)



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